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                           Verlauf

Zum Verlauf der Ausstellung „Kennst du den Faust?“

Diese Ausstellung war nach dem einhelligen Urteil für alle Besucher und Besucherinnen ein eindrucksvolles Erlebnis.

Bei der Eröffnung am 24. September 2005 hielt ich folgende Ansprache:

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde,

herzlich willkommen zur Eröffnung der Ausstellung „Kennst du den Faust?“.

Sie haben sicher bemerkt, dass es sich um eine ungewöhnlich platzierte und präsentierte Ausstellung handelt. Und dementsprechend ungewöhnlich ist die Ausstellungseröffnung.

Mit Rainer Schumacher bin ich über sechzehn Jahre befreundet und habe andere Ausstellungs-Eröffnungen seiner Gemälde und Skulpturen erlebt. Als er jedoch anfing, sich mit der „Fausti- schen Welt“ künstlerisch zu beschäftigen, stand für ihn fest, dass diese Skulpturen auf einem Schrottplatz ausgestellt werden müssen, obgleich „Schrott“ weder im „Faust“ noch in meinem Faust-Buch vorkommt.

 Aus der modernen, technisierten Welt ist der Schrottplatz nicht wegzudenken und schon deshalb ein bedeutender Ort, der in einer früheren Zeit undenkbar gewesen wäre. Zugleich ist er ein Symbol der Konsum- und Wegwerfgesellschaft. Aber von Kunst haben wir gewöhnlich eine höhere Meinung, als dass sie in solcher Umgebung präsentiert werden müsste. Die Zusam- menstellung von Kunst und Schrott ist eine Provokation. Sie dient hier nicht dazu, die Schönheit der Kunst zu erhöhen, sondern darauf hinzuweisen, dass Kunst etwas zu tun hat mit dem Alltag, Alltag verstanden als gewöhnliches Alltags-Leben, aber auch als Leben im All, auf dem Planeten Erde und im Universum, in das auch schon allerhand Schrott transportiert wurde und das wohl dazu auserlesen ist, dereinst den zwischengelagerten Atommüll zu schlucken.

 Der Titel der Ausstellung ist hier so wenig wie im „Prolog im Himmel“ eine rhetorische Frage. Man könnte sie erweitern und sagen: ‚Erkennst du den Faust?’ Kaum etwas ist für den Blick Fausts faszinierender als Feuer und Glut. Nicht das Gold, die Glut ist es, die er in der Walpurgisnacht enthusiastisch beschreibt. Funkensprühendes Feuer treibt die Raketen, mit denen die faustischen Hexen durch die Luft fliegen. Fast alles, was sich auf einem Schrottplatz ansammelt, entstand durch die Energie der Glut. Aber auch die Skulpturen, die hier stehen, verdanken zwar nicht ihr Dasein, aber doch ihren Ausdruck und ihre Haltbarkeit einer Glut von über 1250°C. Sie rosten nicht und scheinen gerüstet, es mit der Welt Fausts aufzunehmen.

 In meinem Buch „Faustische Welt“ zeige ich, dass Goethe im „Faust“ wie in einem Experiment durch-spielt, wohin sich eine Welt entwickeln kann oder vielleicht sogar entwickeln muss, wenn die Um- und Neugestaltung der Natur durch den nach Gottgleichheit strebenden Menschen gott- und gewissenlos geschieht. Diese Visionen haben Rainer Schumacher angeregt, ihnen eine moderne Gestalt zu geben.  In Goethes „Faust“ wird jedoch nicht nur eine Schreckensvision entworfen, sondern im „Vorspiel auf dem Theater“ und in der „Hexenküche“ werden zugleich der klassische Kunstbegriff und der Sinn der Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft poetisch dargestellt. 

  Weil in unserer Zeit der Kunstbegriff sehr weit und damit offener, aber auch leerer geworden ist, möchte ich ein paar Sätze zum klassischen Kunstbegriff sagen, den sich die soge- nannten deutschen Klassiker gegen Ausgang des 18. Jahr- hunderts erarbeitet haben. Sie lebten in der Grenze, im Grenzgebiet zwischen dem Feudalstaat von Gottes Gnaden und einer zukünftigen, auf der Freiheit des Individuums gegrün- deten Gesellschaft. Und sie wussten von der Möglichkeit, dass die bürgerliche, Leistung fordernde und irdisches Glück verheißende Ideologie Menschen aus ihren gesicherten  Standes-Formen und gesicherten Diesseits- und Jenseitsvor- stellungen herausbrechen kann, ja, herausbrechen muss, wenn sie sich als neue Gesellschaftsform etablieren will.

Goethe und Schiller konnten am Verlauf der Französischen Revolution studieren, wohin die neue, ungezügelte Freiheit führt, wenn die alten moralischen Instanzen abgeschafft werden und dieses moralische Vakuum nicht durch ein humaneres, menschenwürdigeres, verantwortungsvolles Gewissen ersetzt wird. Sie erarbeiteten sich die Überzeugung, dass vor allem, oder vielleicht sogar nur, die Kunst die neue, moderne Gesellschaft davor bewahren kann, sich zu einer Welt der Barbarei zu entwickeln.

Die Beschäftigung mit Kunstwerken sollte den Menschen - zeitweilig - aus seinen Alltagszwängen befreien, sie sollte ihm erlauben, sich und seine Welt aus einem größeren Abstand zu betrachten, aber vor allem sollte sie in ihm seine gute, seine humane Natur wecken, also das, was ihn von Natur aus vom Tier unterscheiden könnte. Das ist das gefühlte Bewusstwein, dass der Mensch als solcher ein soziales Wesen ist, das sich frei für seine gute, soziale Natur entscheiden kann.

Immanuel Kant schrieb: „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein ‚guter Wille’.“ Diesen guten Willen sollte Kunst wecken und stärken. Sie sollte die Menschen bewegen, schön, und das heißt vor allem, gewaltfrei, in „Lieb` und Freundschaft“, zu handeln. Ob ihr das gelang, das war der Maßstab für echte Kunst.

Vor dem Hintergrund eines solchen Kunstbegriffs veröffentlichte Goethe seinen „Faust“. Die Hauptfigur verkörpert ein kunst-loses Bewusstsein, in dessen Wahlspruch „Allein ich will“ das Gute fehlt. Und dementsprechend ist Fausts Kunstbegriff.

Während Goethe den Theaterdirektor im „Vorspiel“ sagen lässt, „Wie machen wir’s, dass alles frisch und neu Und mit Bedeutung auch gefällig sei?“, stellt Faust die Bedingung: „Nur dass die Kunst gefällig sei!“, oder, etwas umformuliert: ‚Dass die Kunst nur gefällig sei’, also nur der Regeneration für den Alltag, nicht der Kritik an diesem Alltag dient. Und so ist es folgerichtig, dass im „Walpurgisnachtstraum“ der Dilettantismus ausgebreitet wird, der zum faustischen Bewusstsein und damit zur faustischen Welt gehört. Urteilen Sie selbst, ob der klassische Kunstbegriff veraltet ist oder ob er auch heute noch als Maßstab für echte Kunst brauchbar wäre.

Sie dürfen mir glauben, dass Rainer Schumacher lustige, duftige, leichte, sinnliche Figuren schaffen kann und – zum Beispiel in seinem Hexenzyklus – auch geschaffen hat. Aber wenn ein Künstler wie er über die liebe-lose, inhumane Welt nach-denkt, die Goethe schon im ersten Teil des „Faust“ auf die Bühne gestellt hat, und dabei erkennt, dass unsere Zeit das verwirklicht, was Goethe als Horrorszenario entworfen hat, dann kann dabei kaum – in einem oberflächlichen Sinne – schöne, glatte, gefällige Kunst entstehen. Rainer Schumacher hat nie aufgegeben, ein sozial engagierter Künstler zu sein, der sein Publikum nicht besänftigt, sondern irritiert.

Seine Skulpturen zur „Faustischen Welt“ können und sollen anregen, darüber nachzudenken, was in dem faustischen Bestreben, wie ein Gott eine neue Natur zu schaffen, der Erde und vielen Menschen darauf täglich angetan wird. Darüber hinaus jedoch sind sie als Werke der Bildenden Kunst Zeichen, Gebilde, um sich als symbolische Formen in die Gefühls- und Gedankenwelt des Betrachters einzugraben, dort zu ‚nisten’, wie die „Sorge“ im „Herzen“ Fausts, die geheime Schmerzen „wirket“ und „Lust und Ruh“ stört.

Vielleicht sind manche Skulpturen den ‚Herzen’ der Betrachter nicht sofort willkommen. Mag sein, dass sie auf den einen oder die andere zu direkt, nicht abstrakt genug wirken. Aber Rainer Schumacher scheint seine Kunst nicht vom Menschen, vor allem nicht vom menschlichen Antlitz trennen zu können. Wer sie betrachtet, sieht sich nicht unbedingt im Spiegel, aber er fühlt doch, dass er als Mensch an diesen ‚konkreten Abstraktionen’ beteiligt ist.  Wenn sich Rainer Schumacher dem Zeitgeist verweigert, dann könnte er sich auf Goethe berufen, der – ganz im Sinne seiner Kunsttheorie - gesagt hat:

    „Hast du einmal das Rechte getan,
    Und sieht ein Feind nur Scheeles daran,
    So wird er gelegentlich, spät oder früh,
    Dasselbe tun, er weiß nicht wie.“

Sobald man beginnt, über die Skulpturen nachzudenken, werden ihre Zerrissenheit, ihre Maskenhaftigkeit, ihre metallischen Strukturen bedeutend. Es sind hier keine individuellen Menschen dargestellt, sondern Figurationen, Chiffren einer Idee, eines Bewusstseins, vor allem aber dieses gut- und sittenlose „Allein ich will“, das über Leichen geht und das einem in den entschlossenen Blicken der Skulpturen oft begegnet. „Allein ich will“ – das hätte auch der Titel dieser Ausstellung sein können. 

Als ich die ersten Fotos der Skulptur „Fasse mich nicht so mörderisch an“ gesehen habe, konnte ich nicht begreifen, wie Rainer Schumacher begründen wollte, Margarete ohne Arme und Hände darzustellen. Sie, die einzige Figur, die ‚sittlich’ handelt, sich von der äußeren, faustischen Freiheit trennt, die Margarete, die Faust, nicht mehr Mephisto, als den bezeichnet, vor dem es ihr graut, die den ungeheuren Satz ausspricht: „Fasse mich nicht so mörderisch an!“ Wenn sie - zwar im Wahnsinn, aber dadurch auch wahrhaftig - in innerer, sittlich-moralischer Freiheit ihre Schuld verantwortet, müsste dann nicht sie die einzige sein, die Arme zum Umarmen und Hände zum Handeln hat? Stattdessen ist sie wie eine tropfenförmige Flasche in eine doppeltes, von Faust nach hinten abgesperrtes Gitter gestellt.

Nun weiß ich aber, dass Rainer Schumacher in seinen soge- nannten „Tintenbüchern“ die Idee zu einer Skulptur von mindestens vier Seiten aus mehrfach zeichnet, dass er um die Skizzen herum lange Gedankengänge niederschreibt, um dann zu versuchen, Gedanken und Gefühle in einer Form zu vereinen und auszubilden.

Ihm kam es also bei dieser Skulptur darauf an, zu gestalten, wie in der faustischen Welt den Menschen Handlungs- und Liebesfähigkeit genommen werden oder sich nicht entwickeln können, wie sie deformiert werden, wie die verheißene Freiheit sich zum Kerker verengt. Die Flasche, an die Margarete erinnern kann, spielt an auf das Fläschchen, das ihr der Giftmischer Faust unter dem Vorwand der Liebe gegeben hat, um das Hindernis „Mutter“, also, wie wir heute sagen würden, Margaretes Über-Ich, aus dem Weg zu räumen, damit sie ganz für die faustische Freiheit frei sein und „zu allen Sachen ja“ sagen kann.

So bleibt für die Darstellung der inneren, moralischen Freiheit, zu der Margarete im Kerker gefunden hat, nur übrig ihr Gesicht. Es ist das individuellste, klarste Antlitz der Ausstellung, das sich vom Gesicht des dahinter stehenden Faust deutlich abhebt. Diese Margarete ist entschlossen, nicht mehr auf die Einflüste- rungen Fausts, auf „seiner Rede Zauberfluss“, sondern auf ihre innere, wahre, gute Natur zu hören und dem Recht, das der unter dem Blutbann stehende Faust mit Füßen tritt, zu seinem Recht zu verhelfen.     Ihre innere Wandlung ist der Garant dafür, dass die moderne Welt keine faustische Welt sein muss.

So gesehen ist die Skulptur viel bedeutender, als sie sein könnte, wenn sie meinen Vorurteilen entsprochen hätte. Alle Skulpturen der Ausstellung sind nicht nur Gefühls-, sondern auch Denkangebote. Aber je mehr man über sie nachdenkt, desto gefühlshaltiger werden sie.

Diesem Nachdenken kann nach- oder vorgeholfen werden, indem man über die Skulpturen spricht. Deshalb weist unsere Ausstellung noch eine weitere Besonderheit auf: Der Künstler und sein Freund sind nicht nur heute auf dem Schrottplatz, sondern während der ganzen Ausstellung, um den Betrachtern zuzuhören und mit ihnen darüber zu sprechen, was sie sehen, fühlen und denken. Lassen Sie uns also bitte die nächsten Tage nicht allein hier stehen, kommen Sie selbst noch mal und / oder schicken Sie Ihre Freunde und Bekannten. Auch Schulklassen sind willkommen zum Kunst- und Literaturunterricht auf dem Schrottplatz.

In dem Katalog, den es neben der „Faustischen Welt“ hier zu kaufen gibt, kommen noch andere Aspekte der Ausstellung zur Sprache. Außerdem habe ich zu fast allen Skulpturen einige Gedanken geschrieben, die vielleicht anregen können, darüber zu sprechen.

Die Ausstellung wäre nicht möglich gewesen ohne das freundliche, selbstlose und großzügige Entgegenkommen der Firma Gebr. Bernsmann. Herrn Bernsmann und Herrn Meier war kaum eine Zumutung zu groß, so wenig wie Herrn Ludwig und seinen Leuten auf dem Schrottplatz.  Erleichtert wurde die Ausstellung durch die Unterstützung durch die Stadt Münster und die Sparkasse Münsterland Ost. Aber auch sonst haben viele Menschen mitgewirkt, damit wir die Skulpturen hier prä- sentieren können und damit Sie von der Präsentation der Skulpturen etwas erfahren haben. Die Musik spielt Manfred Wex, der vor etlichen Jahren als Student in meinen Seminaren war.

Allen danke ich sehr herzlich, am meisten freilich Rainer Schumacher, der mir diese Ausstellung nachträglich zu meinem inzwischen verjährtem siebzigsten Geburtstag widmet.

Lieber Rainer,

Goethe sagte einmal in einem größeren Zusammenhang, wir müssen „uns die Wissenschaft notwendig als Kunst denken, wenn wir von ihr irgendeine Art von Ganzheit erwarten“.  Er hat dabei sicher nicht an die Literaturwissenschaft gedacht. Aber vielleicht hätte es ihm doch imponiert, zu sehen, wie das Ergebnis einer jahre-, jahrzehntelangen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit seinem „Faust“ von einem Bildenden Künstler weitergedacht, weitergefühlt und weitergeführt wird, bis es sich als Kunst kristallisiert. Du hast das zwar so nicht gesagt, aber du hattest für diese Ausstellung immer eine „Art von Ganzheit“ im Sinn, die sich auch in der von dir gewünschten Gestaltung des Katalogs der Ausstellung widerspiegelt.

Es war ein Glücksfall in meinem Leben, dir begegnet zu sein. Du hast mich schon die ganze Zeit über beschenkt. Auch dadurch, dass ich in dir einen Menschen gefunden habe, der mein Buch immer wieder gelesen hat und liest und sich darin inzwischen besser auskennt als ich. Und nun die Widmung dieser Ausstellung! Sie wäre jedoch nicht möglich gewesen ohne das größte Geschenk, nämlich deine Freundschaft.

Für alles sei nochmals bedankt!

 

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