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     "Wir wollen stark Getränke schlürfen"
    • Wenn in geselliger Runde die Aufforderung ertönt: „Wir wollen stark Getränke schlürfen“, so wundert sich niemand. Und wenn im „Vorspiel“ in Goethes „Faust“ der Direktor vom Dichter „stark Getränke“ verlangt und ihn mit einem Bierbrauer vergleicht, der unverzüglich „brauen“ soll, so wird man dies wohl als poetische Umschreibung für etwas derbe Theaterstücke verstehen und sich weiter nicht viel dabei denken. Doch allein in diesem kleinen Vorspiel, wo es nicht um Essen und Trinken, sondern darum geht, Goethes – und damit die klassische – Kunst- und Gesellschaftstheorie zu verdeutlichen, ist achtmal von Nahrung die Rede: Zum Beispiel soll die „Menge“ im Theater eine Art Bäckerladen sehen, vor dem man wie in „Hungersnot um Brot“ ansteht, aber der Dichter soll nicht nur backen, er soll auch kochen, und zwar ein „Ragout“, das den kulinarischen Vorstellungen des Direktors entspricht. Die Lustige Person liefert ein weiteres Rezept, wie der „beste Trank gebraut“ wird, „der alle Welt erquickt und auferbaut“. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass solche Bilder aus dem Bereich des Kulinarischen nicht nur poetische Ornamente sind, die der dichterischen Freiheit und Fabulierfreude entspringen, sondern dass sie Vorstellungen erläutern, die sich auf andere Weise nicht begreiflich machen ließen.

„Wir wollen stark Getränke schlürfen”

Goethes Nahrungsmetaphorik*

Es ist keine Erfindung Goethes, sondern eine alte Tradition, den Dichter mit einem Koch, Arzt oder Apotheker zu vergleichen, und davon macht Goethe in diesem Vorspiel deutlich Gebrauch. Am wichtigsten ist aber doch die Nahrungs-Metaphorik.

Äpfel und Birnen lassen sich eher miteinander vergleichen als Dichtung und Schnaps. Äußerlich gesehen ist es aber deshalb möglich, weil Begriffe wie ‚geistige Getränke‘ oder ‚Wein-Geist‘ in unserer Sprache heimisch sind. Vielleicht denken nicht mehr viele bei Spirituosen daran, dass dieses Wort von ‚spiritus‘ kommt, das im Lateinischen ‚Geist‘ bedeutet. Hier ist Geist ein anderes Wort für Alkohol, der schon seit der Antike mit Wahrheit verglichen wird: In vino veritas.

Eine wichtige Rolle spielen Getränke-Metaphern in der Hexenküche (Binder 2005), obgleich man dort eine höhere Bedeutung kaum vermutet, denn hier scheint es nur darum zu gehen, Faust so zu verjüngen, dass er sexuell fähig ist, sich auf eine Beziehung mit der jungen, unschuldigen Margarete einzulassen. Und auch dies soll ein Getränk bewirken: Du siehst, mit diesem Trank im Leibe, Bald Helenen in jedem Weibe. Das ist aber nur die Oberfläche. Der größte deutsche Dichter wird seinem Publikum keinen solchen Unsinn auftischen, zumal er selbst bei den besten Denkern und Dichtern zu Tisch saß: Bei Pythagoras, bei den Besten, Saß ich unter zufriedenen Gästen; Ihr Frohmahl hab’ ich unverdrossen Niemals bestohlen, immer genossen.

Für Goethe war es selbstverständlich, sich beim Dichten als Koch zu fühlen. Zum Beispiel stieg er in seine alte Burg der Poesie, um dort an seinem Töchterchen zu kochen, womit sein Schauspiel Iphigenie gemeint ist. Voltaire kam Goethe vor wie ein Zauberer, der einen Hexenkessel abschäumt; es ist nur Schaum, was sein Löffel schöpft, aber ein verteufelter Schaum. Auch seinen eigenen Faust nennt Goethe ein Hexenprodukt und bringt sich damit selbst in die Nähe der Hexe. Das zeigt, dass auch die Hexenküche etwas mit Dichtung und Kunst zu tun haben könnte. Am Anfang der Szene kocht etwas in einem dampfenden Kessel, den die Meerkatze schäumt, und in diesem Dampfe zeigen sich verschiedene Gestalten. Zum Glück gibt es eine Briefstelle, die wie ein nachgereichter Kommentar dazu wirkt: Goethe rezensiert das Werk eines Zeitgenossen und schreibt, es käme etwa zustande, wenn man Wielands poetische Schriften stückweise in eine Hexenpfanne neben einander setzte und sodann über einem gelinden Feuer so lange schmorte, bis Naturell, Geist, Anmut, Heiterkeit mit allen übrigen lebendigen Eigenschaften völlig abgeraucht wären. Das scheint dabei herauszukommen, wenn Literatur-Köche – wie die Meerkatzen – nichts von ihrem Handwerk verstehen. Sie sagen selbst, sie kochen breite Bettelsuppen, worauf ihnen Mephisto ein groß Publikum verheißt; an Schiller schreibt Goethe verärgert über ein Buch, es sei so recht eine Bettelsuppe, wie sie das deutsche Publikum liebt. Mit solchen geistlosen Produkten kann wohl weder eine physische noch eine geistige Verjüngung erzeugt werden. So muss denn doch die Hexe dran.

Die Figuren des Dramas benützt Goethe als poetische Instrumente, mit denen er verdeutlichen will, was er seiner Generation und vor allem deren Nachkommen zu sagen hat. Die Sagengestalten Faust und Mephisto sind dafür geeignet, weil in Goethes Verständnis die Gesinnung Fausts der modernen Gesinnung analog ist. Faust ist also die Metapher, das Gleichnis für den modernen Menschen und dessen Bewusstsein. Wenn in der Hexenküche Faust verjüngt, regeneriert werden soll oder sogar muss, dann geht es angesichts der beginnenden Industrialisierung und der Risse im Feudalsystem in Wirklichkeit um die Regeneration des neuzeitlichen Bewusstseins, es geht um die Frage, ob eine bürgerliche Welt zugleich eine inhumane, faustische Welt sein muss. Um zu verstehen, warum Goethe Eigenschaften alkoholischer Getränke als Gleichnis für seine Kunst- und Gesellschaftstheorie verwendet, ist es hilfreich zu wissen, was im 18. Jahrhundert über die Herstellung geistiger Getränke bekannt war.

Der Saft der Hexe, der Faust verjüngen soll, entsteht durch feine Gärung und stinkt  während seiner Reife.  Seine Qualität nimmt mit der Zeit dieser Reife zu, denn die Jahre doppeln seine Kraft. Im „Zedler“, dem großen Universallexikon des 18. Jahrhunderts, steht, aller Branntwein werde allein durch Gärung erzeugt, und das in allen gegorenen Dingen vorhandene geistige Wesen ist und bleibet allezeit einerlei brennbarer oder brennender Geist. Man wusste also, dass die Eigenschaft des Alkohols nicht davon abhängt, was vergoren wird, dass er folglich immer rein ist, und auch, dass es die Kunst des Kellermeisters braucht, um den Wein mit Bedacht und Fleiß vom Essigwerden oder anderen Verderben zu bewahren: Je langsamer und behutsamer die Weine gären, je geistiger und herrlicher werden sie. Als Gleichnis für die Erneuerung menschlichen Bewusstseins ist die Produktion von Wein und Branntwein deshalb gut geeignet, weil mit der Zunahme des ‚geistigen Gehalts‘, also der Kraft, die alle alkoholischen Getränke gemeinsam haben, die Getränke nicht schlechter, sondern herrlicher werden. Und herrlich ist ein solches Getränk nicht dadurch, dass es wie jedes andere schmeckt, sondern seine individuelle Eigenart entfalten kann. Freilich mit einer Einschränkung, die auch die Hexe kennt: Doch wenn es dieser Mann unvorbereitet trinkt, So kann er, wisst Ihr wohl, nicht eine Stunde leben. Im eigentlichen Sinne ist dies verständlich, da hundertprozentiger Spiritus tödlich ist und deshalb verdünnt werden muss, aber wie soll man sich eine solche Verwässerung im Bereich der Wahrheit denken, die der Alkohol repräsentiert?

Als Goethe die Hexenküche schrieb, hatte die Französische Revolution schon begonnen; im ersten Teil der Szene lässt er die Krone – im Zusammenhang mit der Bettelsuppen-Literatur – zerbrechen, noch ehe sie in Frankreich gänzlich zerbrochen war. Kaum etwas war ihm verhasster als der Gedanke, in der Politik könnten Menschen durch Wahlen über etwas entscheiden, von dem sie nichts verstehen, so dass sie nur wählen können, was ihnen rhetorisch versierte Redner – wie etwa Mirabeau – als wahr und machbar einreden. Wenn ein solcher Mensch zum Beispiel den Begriff ‚Freiheit‘ in ‚reiner‘ Form hört, dann ist dies für ihn ein Freibrief, ohne Recht und Gesetz zu tun, was ihm beliebt. Die Folgen beschreibt Schiller in der „Glocke“: Weh denen, die dem ewig Blinden, des Lichtes Himmelsfackel leihn! Sie strahlt ihm nicht, sie kann nur zünden Und äschert Städt und Länder ein. Es ist also Wahrheit als von außen eingeflößte Ideologie, gegen die Goethe mit seiner Nahrungsmetaphorik ankämpft. Für ihn als vernünftigen Menschen muss es Wahrheit geben, weil sonst kein Zusammenleben möglich wäre, sobald sie aber als reine und damit als alleinige Wahrheit auftritt, wird sie falsch. Das heißt, wenn Wahrheit zur sozialen Natur gehört, so ist sie in jedem Menschen zu finden. Man braucht ihm keine Wahrheiten, keine Ideologien einzureden, sondern muss ihm ermöglichen, dass die Wahrheit, die er von Natur aus in sich hat, in ihm geweckt wird.

Das Rezept der Hexe, mit der Wahrheit geweckt und doch ihre Gefährlichkeit für Individuum und Gesellschaft gedämpft wird, heißt: Die hohe Kraft Der Wissenschaft Der ganzen Welt verborgen, Und wer nicht denkt, dem wird sie geschenkt, Er hat sie ohne Sorgen. Die hohe Kraft der Wissenschaft, die wahre Wahrheit, ist verborgen, und dennoch da. Als Geistiges kann sie nur im Menschen verborgen sein, wo immer sie entschleiert wird, ist sie falsch. Das wahrer Wahrheit hinderliche Denken ist dort wirksam, wo behauptet wird, Wahrheit erkannt zu haben und zu wissen, was daraus für alle Menschen folgt. Die Gefahr der dadurch erzeugten Ideologien ist in der Hexenküche gezeigt durch die Gegenüberstellung zweier Flammen: Zuerst die durch die Meerkatzen nicht verhinderte und vielleicht sogar begünstigte revolutionäre große Flamme und dann die leichte Flamme, die auf dem Trank der Hexe brennt und niemanden bedroht. Statt einer Indoktrination eine Art Infiltration von etwas, das im Menschen nachhaltig wirken kann. Entsprechend sagt Goethe einmal, dass man erst den Wein spürt, wenn er eine Weile hinunter ist. Dieser Wein-Geist der – von Mephisto als Arzt bezeichneten – Hexe soll wie eine Arznei im Innern wirken: Du mußt notwendig transpirieren, Damit die Kraft durch Inn- und Äußres dringt. Etwas Ähnliches hatte Goethe selbst in Rom erfahren: Die Wiedergeburt, die mich von innen heraus umarbeitet, wirkt immer fort. [...] daß ich so viel verlernen müsste, dachte ich nicht.

Vermutlich weil Goethe erfahren musste,  1790 erschienene Hexenküche als Hokuspokus abgetan wurde, hat er 1806 in seinem Vorspiel gewissermaßen eine Erklärung nachgereicht. Hier ist nun ganz deutlich, dass mit der Nahrungsmetaphorik von Dichtung die Rede ist. Der Dichter weist die auf den ersten Blick nur pragmatischen Forderungen des Direktors zurück, weil ihm, wenn er sich an der Menge orientiere, – wie beim Schmoren in der Hexenpfanne – der Geist entflieht. Die Lustige Person versucht zu vermitteln, indem sie die Trank-Metaphorik der Hexe und auch die Begriffe ganze Welt und Irrtum statt Wahrheit aus der Hexenküche verdeutlichend wieder aufnimmt:

    In bunten Bildern wenig Klarheit,
    Viel Irrtum und ein Fünkchen Wahrheit,
    So wird der beste Trank gebraut,
    Der alle Welt erquickt und auferbaut
    .

Das Fünkchen Wahrheit, das auf dem ‘Feuer-Wasser’ der Hexe brannte, ist jetzt als wenig Klarheit verpackt in bunte Bilder und viel Irrtum. Die dadurch verursachte Irritation soll dazu dienen, den in jedem Menschen – aller Welt verborgen – glimmenden Funken anzufachen, denn – wie Goethe Wilhelm Meister sagen lässt – in den Menschen lebe ein besserer Funke, der, wenn er keine Nahrung erhält, wenn er nicht geregt wird, von der Asche täglicher Bedürfnisse und Gleichgültigkeit tiefer bedeckt und doch fast nie erstickt werde. Um ihn aufzublasen, brauche die Seele Kraft, und um dem erweckten Nahrung zu geben, brauche es Reichtum im eigenen Herzen. Das im Trank enthaltene Fünkchen Wahrheit soll eine Art Initialzündung sein, das die im Menschen vor allem durch Erziehung und aufgedrängte Vorurteile verschüttete individuelle Natur aufregt und das Gefühl ermöglicht, dass sich der bisherige Irrtum als wahrer erweisen könnte als das, was seither als Wahrheit galt. Und als Wirkung formuliert die Lustige Person:

  • Dann sauget jedes zärtliche Gemüte
    Aus eurem Werk sich melanchol'sche Nahrung,
    Dann wird bald dies, bald jenes aufgeregt,
    Ein jeder sieht, was er im Herzen trägt.

Das Werk des echten Künstlers ermöglicht dem Einzelnen, seine spezifische Nahrung zu finden, zum Beispiel ein zärtliches, melancholisches Gemüte die ihm zuträgliche und verdauliche melanchol’sche Nahrung. Dichtung dient nicht dazu, Weisheiten (Ideologien) zu verbreiten, sondern ihren Rezipienten indirekt durch – schmackhafte – Irritation zu bewegen, seine eigene Individualität zu bemerken, zu erkennen, was er im Herzen trägt, was ihn von anderen unterscheidet, und das heißt zugleich, was er für die Gemeinschaft leisten kann. Dies hat Goethe später noch unverblümter ausgedrückt: Denn das ist der Kunst Bestreben, Jeden aus sich selbst zu heben, Ihn dem Boden zu entführen; Link und recht muß er verlieren Ohne zauderndes Entsagen; Aufwärts fühlt er sich getragen! Und in diesen höhern Sphären Kann das Ohr viel feiner hören, Kann das Auge weiter tragen, Können Herzen freier schlagen. [...] In der Himmelsluft der Musen Öffnet Busen sich dem Busen, Freund begegnet neuem Freunde, Schließen sich zur All-Gemeinde, Dort versöhnt sich Feind dem Feinde.

Aber alle Welt könnte nicht auferbaut und in der All-Gemeinde nicht Feind dem Feinde versöhnt werden, wenn Goethe nicht davon überzeugt gewesen wäre, dass die höhere Natur des Menschen, sein wahres Wesen, gut ist. Nun wird deutlicher, was Mephisto in der Hexenküche meint, wenn er sagt: Du siehst, mit diesem Trank im Leibe, Bald Helenen in jedem Weibe. Der Trank mit der leichten Wahrheits-Flamme ist in höherem Sinne ein Aphrodisiakum. Der Liebestrank der Dichtung soll die soziale Potenz der Menschen so stärken, dass sie nicht nur in jedem Weibe, sondern in jedem Menschen seine geistige Schönheit bemerken. Sie sollen aufgeregt werden, im anderen Menschen nicht nur das Körperliche, das sich verdinglichen lässt, sondern im Leibe zugleich das Höhere zu sehen, wie es in diesem Wort schon angelegt ist, nämlich die ‚Liebe‘.

Goethe hatte sich immer geweigert, die Hexenküche zu erläutern, aber auf dieses Ansinnen so geantwortet, dass es wie eine Erläuterung wirkt: Suchten sie doch die psychisch-sittlich-ästhetischen Rätsel, die in meinen Werken mit freigebigen Händen ausgestreut sind, sich anzueignen und sich ihre Lebensrätsel dadurch aufzuklären! Wo Goethe seine Rätsel als Nahrungsmetaphorik verkleidet, garantiert dies zugleich, dass es bei seinen – ihrem Wesen nach offenen und deshalb in poetischer Form geäußerten – Vorstellungen um etwas für „alle Welt“ Lebensnotwendiges geht und dass Dichtung für den humanen Menschen – wie Brot – eine Art Grundnahrungsmittel ist.

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    * Diesen, etwas locker abgefassten Beitrag habe ich für die Gourmet-Zeitschrift “journal culinaire” geschrieben.
  • Literatur
    Alwin Binder: Das Vorspiel auf dem Theater. Poetologische und geschichtsphilosophische Aspekte in Goethes Faust-Vorspiel. Bonn 1969.
    Alwin Binder: Unterrichtsmodell zur Deutschen Klassik. Frankfurt 2006.
    Alwin Binder: Faustische Welt. Interpretation  von Goethes Faust in dialogischer Form. Urfaust – Faust-Fragment – Faust I. 4. Auflage. Münster 2005. S. 199-239