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  Schillers Ästhetik und ihre heutige Relevanz

Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist,
und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.

                                  Schillers Ästhetik und ihrer heutige Relevanz*

[...] Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.1 Wie kommt Friedrich Schiller dazu, einen solchen, auf den ersten Blick schwer nachvollziehbaren Satz zu schreiben? Man kann davon ausgehen, dass es im 18. Jahrhundert kaum einem Menschen vergönnt war, als Kind viel zu spielen, aber Schillers Kindheit und Jugend war nach allem, was man davon weiß, wahrscheinlich noch ‚spielloser’ als das der meisten Kinder. Mit sechs Jahren bekam er Elementarunterricht, und ab acht Jahren besuchte er eine Lateinschule, und das bedeutete, dass ihm so gut wie keine freie Zeit blieb. Und dann griff sein ,Landesvater’ auf eine heute unvorstellbare Weise in sein Leben ein. Der Herzog von Württemberg eröffnete eine so genannte „Pflanzschule“, in welcher besonders begabte Kinder auf den Militär- und Staatsdienst vorbereitet werden sollten.

Ausgewählt wurde von ihm auch der 14-jährige Sohn des Offiziers Johann Kaspar Schiller, obgleich dieser Sohn Pfarrer, und nicht, wie ihm vom Herzog persönlich diktiert wurde, zunächst Jurist und später Mediziner werden wollte. Alle Bitten halfen nichts, und Rechte gab es keine. In dieser militärischen Erziehungsanstalt war fast alles reglementiert, es gab keinen Urlaub, kaum Besuche. Für Zeit zum Spielen, in welcher Form auch immer, war da sehr wenig Raum. Auch als Schiller seine Ausbildung als Mediziner abgeschlossen hatte, ließ ihn der Herzog nicht frei sein. Sein Vater hatte ihm unter großen finanziellen Opfern zwei Zivil-Anzüge machen lassen, aber der Herzog befahl, Schiller habe nicht nur beim Dienst im Regiment, sondern immer Uniform zu tragen;2  auch das hat ihm die Freude am Spiel, zum Beispiel am Kartenspiel mit seinen Freunden, verdorben. In dieser Uniform konnte er nie er selbst, nie Mensch sein. Der Herzog verbot Schiller schließlich aufgrund seines Schau-,Spiels‘ „Die Räuber“ jede Art von Publikation, so dass dieser aus Württemberg floh - das kam einer Desertion gleich - und mittellos in der Fremde stand. Über die „Räuber“ urteilte Schiller später öffentlich: „Wenn von allen den unzähligen Klagschriften gegen die Räuber eine einzige mich trifft, so ist es diese, daß ich zwei Jahre vorher mich anmaßte, Menschen zu schildern, ehe mir noch einer begegnete.“3

Der Hass gegen diejenigen, die selber keine Menschen sind und andere am Menschsein hindern, durchzieht und beflügelt mehr oder weniger das gesamte Werk Schillers. Stoff seines letzten vollendeten Dramas, „Wilhelm Tell“, ist der Freiheitskampf eines unterdrückten Volkes. Zunächst versuchte Schiller, diesen Hass unmittelbar in Handlungen umzusetzen, die auf der Bühne gespielt werden sollten, um so politisch an der Befreiung der Menschen aus der Herrschaft von Unmenschen mitzuwirken; dafür sind neben den „Räubern“ auch die anderen vor-klassischen Dramen, „Die Verschwörung des Fiesco zu Genua“, „Kabale und Liebe“ und „Don Carlos“, repräsentativ. Und von diesen Voraussetzungen her ist verständlich, dass er über den Ausbruch der Französischen Revolution begeistert war. Umgekehrt wurde er von den Revolutionären dadurch geehrt, dass die Französische Nationalversammlung ihm 1792 das Ehrenbürgerrecht der französischen Nation erteilte.4 Um so enttäuschender musste es für Schiller gewesen sein, als sich die Französische Revolution zur Schreckensherrschaft entwickelte. Was in Frankreich passierte, passierte gewissermaßen in seinem eigenen Herzen: Er musste erkennen, dass seine eigenen Ideale sich zwar auf der Bühne des Theaters darstellen ließen, sich aber nicht auf dem Schauplatz der Geschichte behaupteten. Man kann sich vorstellen, welche Krise der Verlauf der Französischen Revolution in Schiller auslösen musste. Seine innere Existenz als Dichter schien ihm zerstört zu sein, wenn es keinen Sinn mehr hatte, unwürdig lebende Menschen für einen politischen Umsturz zu begeistern. Wer weiß, ob es jemals einen klassischen Schiller gegeben hätte ohne die 1790 - also während der Französischen Revolution - erschienene „Kritik der ästhetischen Urteilskraft“ von Immanuel Kant.

Nach Kant ist objektive Erfahrung nur dann möglich, wenn etwas Angeschautes, das heißt, mit den Sinnen Wahrgenommenes vom Verstand begriffen wird. Begreifen heißt hier zunächst noch nicht benennen, sondern so abgrenzen, dass es benennbar wird. Man könnte auch sagen, Aufgabe des Verstandes ist es, das durch die Sinne Wahrgenommene so zu ordnen, dass es begreifbar und dann auch mitteilbar ist. Die Fähigkeit, mit den Sinnen etwas wahrnehmen zu können, gehört zur Einbildungskraft. Und die Instanz im menschlichen Erkenntnissystem, die zwischen Einbildungskraft und Verstand vermittelt, indem sie entscheidet, welcher Begriff zu welcher Wahrnehmung oder welche Wahrnehmung zu welchem Begriff gehört, heißt „Urteilskraft“. Kant definiert: „Urteilskraft überhaupt ist das Vermögen, das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken.“5

Diese Urteilskraft nahm Kant kritisch unter die Lupe. Dabei beobachtete er Folgendes: Sobald der Mensch etwas wahrnimmt, wird sein Verstand tätig und gibt keine Ruhe, bis er mit Hilfe der Urteilskraft das Wahrgenommene begriffen hat. Aber, und das ist nun die neue Erkenntnis: es gibt Wahrnehmungen, die keine begriffliche Zuordnung verlangen, sondern Einbildungskraft und Verstand erlauben, miteinander zu spielen, also ungezwungen miteinander umzugehen. In solchen Fällen nimmt die Einbildungskraft den Gegenstand auf mannigfache Weise wahr, und auch der Verstand ist bereit, auf einen festen Zugriff zu verzichten. Normalerweise reagieren die Sinne auf eine konkrete Wahrnehmung mit der Lust, den Gegenstand haben zu wollen, was bis zu dem Wunsch gehen kann, sich den Gegenstand einzuverleiben, oder mit Unlust, die dazu führt, sich abzuwenden oder den Gegenstand wegzuschaffen. Diese beiden Formen des Gefühls, Lust und Unlust, sind hier also mit Interessen verbunden.

Aber bei solchen Gegenständen, die Einbildungskraft und Verstand erlauben, ungezwungen zu spielen, empfindet der Mensch nach Kant eine spezifisch andere Art von Lust, nämlich den Wunsch, bei dem betreffenden Gegenstand scheinbar grundlos zu verweilen. Die Einbildungskraft lässt einen solchen Gegenstand sein, was und wie er ist, deshalb spricht Kant von einem „Wohlgefallen [...] ohne alles Interesse“6, und dem Verstand genügt es beispielsweise, wenn er bemerkt, der Gegenstand sei zweckmäßig strukturiert, ohne zu fragen, welches denn der Zweck der Zweckmäßigkeit sei. Deshalb spricht Kant hier von „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“7. Der Gegenstand, der  ,interesseloses Wohlgefallen’ und die Lust an der „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ auslöst, erhält das Attribut „schön“. Das ist etwas ganz anderes, als wenn man beispielsweise sagt, ein Gegenstand sei ,rot’. Weil das Urteil „schön“ vom subjektiven Empfinden des Urteilenden ausgeht, handelt es sich um kein objektives, sondern um ein „ästhetisches Urteil“.8

Indem Kant das Gefühl der Lust am Schönen mit einem besonderen Verhalten der Urteilskraft verknüpft, die objektiv in jedem vernünftigen Menschen gleich urteilt, ist auch das Gefühl des Schönen nicht mehr zufällig, sondern in jedem Menschen in gleicher Weise wirksam. Zwar kann man nach Kant nicht von vornherein, nicht objektiv sagen, welche Form eines Gegenstandes das Gefühl des Schönen auslösen wird, aber wenn er dieses Gefühl auslöst, dann löst er es so aus, dass der betreffende Mensch, der es empfindet, überzeugt ist, jeder andere Mensch müsse hier gleich empfinden und gleich urteilen. Man kann vielleicht sagen, im Gefühl des Schönen genießt der Mensch, dass er fähig ist, die Welt wahrzunehmen und über das Wahrgenommene richtig zu urteilen.

In der „Kritik der ästhetischen Urteilskraft“ untersucht Kant außerdem, unter welchen Bedingungen nicht nur Naturschönheit, etwa die Form einer Rose, sondern auch die durch Künstler geschaffene Schönheit möglich ist. Der Künstler, der schöne Kunst hervorbringt, tut dies nach Kant nicht aus sich heraus, sondern es ist die Natur, die durch den Künstler wirkt. Von einem solchen Künstler sagt Kant, er habe „Genie“. Man muss sich das vorstellen: Die Natur, in der wir normalerweise ein Zwangssystem sehen, wo der Stärkere den Schwächeren frisst, soll ein Interesse daran haben, dass der Mensch sich aus diesem Zwangssystem löst und ganz unbesorgt, angstfrei das Gefühl des Schönen genießt. Das kann nicht die gewöhnliche, sondern muss eine ,höhere’ Natur sein, die mit dem Menschen etwas Besonderes vorhat, nämlich ihn über die Gattung der Säugetiere zu erheben und ihm zu ermöglichen, als sich selbstbestimmendes humanes Wesen eine besondere Gattung zu bilden. Wenn nun die Natur durch eigene Schöpfungen und durch Schöpfungen des Genies den Menschen aus den Zwängen der ,niederen’ Natur zu befreien sucht, dann kann man wenigstens fragen, wie Schönheit sich zur Sittlichkeit, zur Humanität des Menschen verhält. Kant geht auf diesen Zusammenhang zwar ein, aber nur andeutungsweise, indem er davon spricht, dass die Sensibilität für das Schöne den Übergang zum Moralischen erleichtere, und gibt dem betreffenden Abschnitt (§59) die Überschrift: „Von der Schönheit als Symbol der Sittlichkeit.“ 

Ich stelle mir vor, dass diese Überschrift und der Satz ,,[...] das Schöne ist das Symbol des Sittlich-guten“9 Schiller elektrisiert haben müssen. „Schönheit als Symbol der Sittlichkeit“ – wenn das möglich wäre, dann wäre es auf neue Weise wieder sinnvoll, Künstler zu sein. Ich habe schon erwähnt, in welche Krise Schiller als Künstler durch die Französische Revolution gekommen war. Er schrieb sieben Jahre lang kein Gedicht, geschweige ein größeres poetisches Werk.10 Aber er studierte die „Kritik der ästhetischen Urteilskraft“ und dann das ganze System Kants. Er schien sich an den Gedanken zu klammern, dass die Menschen deshalb nicht human miteinander umgehen, weil sie nur gelernt haben, sich in Gewaltsystemen zu behaupten. Dies zu ändern, erschien ihm als fast unlösbares Problem, das er so formulierte:

    ,,Wenn der [Uhren-]Künstler an einem Uhrwerk zu bessern hat, so lässt er die Räder ablaufen; aber das lebendige Uhrwerk des Staats muss gebessert werden, indem es schlägt, und hier gilt es, das rollende Rad während seines Umschwunges auszutauschen. Man muss also für die Fortdauer des Staates eine Stütze aufsuchen, die sie von dem Naturstaate, den man auflösen will, unabhängig macht.“11 Hier ist zugleich das politische Ziel Schillers formuliert: Der „Naturstaat“ soll aufgelöst werden. Was ist mit diesem Naturstaat gemeint?

Schiller sagt, „Naturstaat“ könne „jeder politische Körper“ heißen, „der seine Einrichtung ursprünglich von Kräften, nicht von Gesetzen ableitet“. Damit ist gemeint, dass im ,Naturstand, nicht im „Naturstaat, ,der Mensch dem Menschen ein Wolf’ sei und ,Krieg aller gegen alle’ herrsche; dass es dem Menschen nur möglich sei zu überleben, wenn er einen Staat schaffe, der die Macht hat, diese sinnlosen Kräfte mit Gewalt zu unterdrücken. Diesen Staat, der die höhere Natur des Menschen in jeder Hinsicht unterdrückt, nennt Schiller „Naturstaat“. Es ist der Staat, in dem er aufgewachsen ist. Durch den Verlauf der Französischen Revolution hatte Schiller erkannt, dass es nicht genügt, den Menschen übergangslos in einen Staat zu versetzen, der nicht von Kräften der Gewalt, sondern von Gesetzen abgeleitet ist. Schiller sagt, die „Auflösung“  des Naturstaats in der Französischen Revolution enthalte „seine Rechtfertigung”.12 Damit meint er, solange die Menschen mit der Freiheit nicht umgehen könnten, brauche man den Naturstaat, um Mord und Totschlag zu verhindern. Das zu lösende Problem lautet demnach: ‚Wie ist es möglich, innerhalb des Naturstaats diesen Naturstaat ohne Revolution, sozusagen stillschweigend aufzulösen oder absterben zu lassen?’ Das Zauberwort dafür heißt: ‚Durch die ästhetische Erziehung des Menschen.’

Eine solche, zunächst ganz unsinnig scheinende Lösung kann man nicht einfach behaupten, sondern sie muss begründet werden. Schiller wusste oder ahnte, wenn ihm diese Begründung gelingt, dann hat nicht nur die Philosophie der Ästhetik, trotz ‚interesselosem Wohlgefallen’ und trotz „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“, einen politischen Sinn, sondern auch die schöne Kunst, zu der auch die Dichtung gehört.

Dass Schiller seine Ästhetik schreiben konnte, hat vermutlich nicht nur mit seinen unmenschlichen Erfahrungen in Württemberg zu tun, sondern auch damit, dass er einige Male ungewöhnliche, vor allem selbstlose Freundschaften erleben durfte. Zum Beispiel ging es Schiller in den Jahren nach seiner Flucht aus Württemberg in jeder Hinsicht nicht gut, weil seine Vorstellungen, wie es mit ihm als Theaterdichter in Mannheim weitergehen könnte, sich als Seifenblasen entpuppten. In einem solchen Zustand der Depression erhielt Schiller von Dora und Minna Stock sowie deren Verlobten Ferdinand Huber und Gottfried Körner einen überschwenglichen Brief der Verehrung, der sein Selbstwertgefühl wieder anhob und ihm Mut machte. Schließlich luden sie ihn ein, bei ihnen zu leben. Diese Einladung nahm Schiller an. Und als Minna Stock und Gottfried Körner heirateten, lebte er bei ihnen in Dresden. Dort hat er „An die Freude“ geschrieben, dieses Gedicht, das Beethoven der Neunten Sinfonie zugrunde legte und in dem die Verse stehen: „Wem der große Wurf gelungen, eines Freundes Freund zu sein [...], mische seinen Jubel ein.“ Vielleicht waren diese Freunde die ersten ,wahren Menschen’, denen Schiller begegnet ist, und man sollte sich daran erinnern, wenn später von ,schönen Handlungen’ die Rede sein wird.

Diesem Gottfried Körner, mit dem Schiller bis zu seinem Tod eng befreundet war, schrieb er Anfang 1793 von seinem Plan, eine Abhandlung in Form eines Gesprächs zu veröffentlichen mit dem Titel: „Kallias oder über die Schönheit“, und teilte ihm das, was er sich darunter vorstellte, in einer Reihe von Briefen mit. Dieser Plan wurde nie verwirklicht, aber die Briefe sind erhalten. In diesen sogenannten „Kallias-Briefen“ definiert Schiller Schönheit auf eine neue Weise. Diese Definition heißt:

  • „Schönheit also ist nichts anders als Freiheit in der Erscheinung.“13

Um diesen Satz zu verstehen, ist nochmals ein kleiner Exkurs nötig, diesmal zur Kantsehen Moralphilosophie. Kant zeigt in der 1785 erschienenen „Kritik der praktischen Vernunft“ - „praktisch“ heißt hier, auf das menschliche Handeln bezogen -, dass der Mensch „Bürger zweier Welten“ sei, weil er nicht nur in der Welt der Erscheinungen lebe, in der alles, was der Mensch tut, so gesehen wird oder doch so gesehen werden kann, als ob es die Wirkung natürlicher Ursachen sei, sondern auch in einer sogenannten „intelligiblen Welt“, von der aus gesehen er auf seine Handlungen Einfluss nehmen und entscheiden könne, ob er sie tut oder sein lässt. Man kann nämlich einer Handlung nicht ansehen, ob sie selbst- oder fremdbestimmt ist. Selbst dort, wo beispielsweise jemand, der nicht schwimmen kann, ins Wasser springt, um einen Ertrinkenden zu retten, lässt sich nicht erkennen, ob er unüberlegt oder ob er ganz selbstlos handelt, oder ob er es nur tut, weil er sich davon im Jenseits einen Vorteil verspricht. Aber Kant würde sagen, jedermann ist sich einig, dass dieser Mensch die Entscheidungsfreiheit hatte, zu handeln, wie er wollte. Wenn eine solche Entscheidung möglich ist, dann ist der Mensch in moralischer Hinsicht frei, und er muss, nach Kant, bevor er handelt, fragen, ob seine Handlungen gut oder böse sind, ob er sie verantworten kann oder nicht.

Wer sollte nun die Instanz sein, die über das Gute oder Böse einer Handlung entscheidet? Nach Kants Moralphilosophie trägt jeder Mensch in sich das objektiv moralische Gesetz, das ihm sagt, was gut ist und was böse. Das Instrumentarium, mit dessen Hilfe die moralisch richtige Antwort gefunden werden kann, heißt „kategorischer Imperativ“. Kategorisch bedeutet ‘unbedingt’, von nichts anderem abgeleitet als von diesem Gesetz. Kant sagt, eine Handlung ist gut, wenn sie auch unter der Voraussetzung noch möglich ist, dass jeder sie tut. Wenn zum Beispiel jeder den anderen umbringt, kann niemand mehr den anderen umbringen, also ist diese Handlung böse. Dagegen ist die Handlung des Lebensretters gemessen am kategorischen Imperativ eine gute Handlung, weil diese Handlung immer möglich wäre, wenn jeder so handelte. Das ist der Sinn der berühmten, aber sehr missverständlichen Formulierung des kategorischen Imperativs:

    „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“14

Kant bestand darauf, dass jeder Mensch rücksichtslos das, was ihm das innere Sittengesetz vorschreibt, als seine Pflicht erkennt und ausführt, unabhängig davon, ob er dies gern tut oder nicht. Dieser Kantsche Rigorismus hat Schiller sehr irritiert, weil er sich nicht vorstellen konnte oder wollte, dass Pflicht und Neigung, die doch beide aus einer menschlichen Natur hervorgehen, sich grundsätzlich widersprechen sollten. Eher konnte er glauben, dass die Neigung der Menschen, ihr inneres Gefühl, zu wenig ausgebildet, das heißt, nicht richtig erzogen sei.

Für Kant haben Pflicht und Neigung nichts oder doch nur sehr wenig miteinander zu tun, weil Neigung in den Bereich der sinnlichen Wahrnehmungen und der Begriffe gehört, Pflicht dagegen in den davon getrennten Bereich der Freiheit, also dorthin, wo die praktische Vernunft des Menschen entscheidet, ob und warum er eine Handlung tut.

Obgleich sich Schillers Definition „Schönheit ist Freiheit in der Erscheinung“ wie eine Provokation anhört, weil er den Bereich der theoretischen Vernunft mit dem der praktischen Vernunft, also den Bereich der sinnlichen Wahrnehmung mit dem Bereich moralischer Entscheidungen zusammenbringt, will auch er diese beiden Bereiche nicht vermischen. Aber er sagt, die praktische Vernunft des Menschen betrachte alles unter dem Gesichtspunkt, ob eine Handlung oder ein Gegenstand autonom, also durch eigene Gesetzgebung bestimmt sei oder nicht. Wenn sie nun an einem „Naturwesen“, also zum Beispiel an einer Pflanze oder einem Tier, das gar nicht frei sein kann, weil es nur den Gesetzen der Natur unterliegt, etwas sieht, das zwangfrei zu sein scheint, so personifiziert die praktische Vernunft dieses „Naturwesen“ und unterstellt ihm, es sei frei und es handle autonom. In Schillers Worten heißt dies:

  • „Entdeckt nun die praktische Vernunft bei Betrachtung eines Naturwesens, dass es durch sich selbst bestimmt ist, so schreibt sie demselben [...] Freiheitähnlichkeit oder kurzweg Freiheit zu. Weil aber diese Freiheit dem Objekt von der Vernunft bloß geliehen wird, da nichts frei sein kann als das Übersinnliche und Freiheit selbst nie als solche in die Sinne fallen kann - kurz - da es hier bloß darauf ankommt, dass ein Gegenstand frei erscheine, nicht wirklich ist: so ist diese Analogie eines Gegenstandes mit der Form der praktischen Vernunft nicht Freiheit in der Tat, sondern bloß Freiheit in der Erscheinung, Autonomie in der Erscheinung.15

Diese Analogie, also die Ähnlichkeit von Schönheit und Freiheit macht das Schöne - trotz aller Zweckmäßigkeit ohne Zweck - in gewisser Weise zu einem Politikum. Denn man kann nun den Freiheitssinn und damit das Moralgefühl eines Menschen stärken, indem man sein ästhetisches Empfinden stärkt. Wer so erzogen worden ist und bei dem diese Erziehung gelungen ist, der handelt auch schön. Schiller sagt:

  • „Also wäre eine moralische Handlung alsdann erst eine schöne Handlung, wenn sie aussieht wie eine sich von selbst ergebende Wirkung der Natur. [...] Aus diesem Grunde ist das Maximum der Charaktervollkommenheit eines Menschen moralische Schönheit, denn sie tritt nur alsdann ein, wenn ihm die Pflicht zur Natur geworden ist.16

Wenn zum Beispiel jemand einem Menschen beisteht, der in Not ist, aber erst, nachdem er mit Hilfe des kategorischen Imperativs sich vergewissert hat, dass er dies tun muss, dann handelt er aus Pflicht; wenn er aber spontan aus seinem moralischen Gefühl heraus so handelt, wie es seine Pflicht wäre, dann ist ihm die Pflicht zur Natur geworden, und seine freie Handlung ist eine schöne Handlung.

Wichtig ist nun, wie Schiller die Analogie zwischen Schönheit und Freiheit präzisiert und in eine Analogie zwischen Schönheit und Gesellschaft verwandelt. Nachdem er an mehreren Beispielen entwickelt hat, dass nichts schön sein kann, das so erscheint, als habe man ihm Zwang angetan, also keine „Freiheit in der Erscheinung“ zeigt, schreibt er:

    „Die Schönheit oder vielmehr der Geschmack betrachtet alle Dinge als Selbstzwecke und duldet schlechterdings nicht, dass eins dem andern als Mittel dient oder das Joch trägt. In der ästhetischen Welt ist jedes Naturwesen ein freier Bürger, der mit dem Edelsten gleiche Rechte hat, und nicht einmal um des Ganzen willen darf gezwungen werden, sondern zu allem schlechterdings konsentieren muss.“17

Wäre demnach die politische Welt wie die „ästhetische Welt“, dann gäbe es keinen ,Naturstaat’ mehr, sondern einen ,ästhetischen Staat’, in welchem keiner dem andern Gewalt antut und ihn verdinglicht. Dass das Gefühl und der Sinn für einen solchen ästhetischen Staat durch alle Formen schöner Kunst erweckt und gepflegt werden kann, wird deutlich, wenn wir in den Kallias-Briefen lesen:

  • „Eine Landschaft ist schön komponiert, wenn alle einzelne Partien, aus denen sie besteht, so ineinanderspielen, dass jede sich selbst ihre Grenze setzt und das Ganze also das Resultat von der Freiheit des Einzelnen ist. Alles in einer Landschaft soll auf das Ganze bezogen sein, und alles Einzelne soll doch nur unter seiner eigenen Regel zu stehen, seinem eigenen Willen zu folgen scheinen. Es ist aber unmöglich, dass die Zusammenstimmung zu einem Ganzen kein Opfer von seiten des Einzelnen koste, da die Kollision der Freiheit unvermeidlich ist. Der Berg wird also auf manches einen Schatten werfen wollen, was man beleuchtet haben will, Gebäude werden die Naturfreiheit einschränken, die Aussicht hemmen, die Zweige werden lästige Nachbarn sein, Menschen, Tiere, Wolken wollen sich bewegen, denn die Freiheit des Lebendigen äußert sich nur in Handlung. Der Fluß will in seiner Richtung kein Gesetz von dem Ufer annehmen, sondern seinem eigenen folgen; kurz: jedes Einzelne will seinen Willen haben. Wo bliebe aber nun die Harmonie des Ganzen, wenn jedes nur für sich selbst sorgt? Daraus eben geht sie hervor, dass jedes aus innerer Freiheit sich gerade die Einschränkung vorschreibt, die das andere braucht, um seine Freiheit zu äußern. Ein Baum im Vordergrund könnte eine schöne Partie im Hintergrund bedecken; ihn zu nötigen, dass er das nicht tut, würde seiner Freiheit zu nahe getreten sein und Stümperei verraten. Was tut also der verständige Künstler? Er lässt denjenigen Ast des Baumes, der den Hintergrund zu verhüllen droht, aus eigener Schwere sich heruntersenken und dadurch dem hintern Prospekte freiwillig Platz machen; und so vollbringt der Baum den Willen des Künstlers, indem er bloß seinem eigenen folgt.“18

Sobald wir in diesem Gemälde das „Ganze“ durch ,Gesellschaft’ oder ,Staat’ ersetzen und die einzelnen Gegenstände durch einzelne, frei handelnde Menschen, dann haben wir keine Landschaft mehr vor uns, sondern die Utopie einer humanen Gesellschaft. Das ist deshalb möglich, weil nach Schiller alles, was erscheint oder getan wird, schön erscheinen und schön getan werden kann. Wie empfindlich nach Schillers Vorstellungen ein ästhetisch gebildeter Mensch ist und in welche Bereiche sich diese Empfindlichkeit erstreckt, zeigen die folgenden Sätze:

  • „Darum ist das Reich des Geschmacks ein Reich der Freiheit – die schöne Sinnenwelt das glückliche Symbol, wie die moralische sein soll, und jedes schöne Naturwesen außer mir ein glücklicher Bürger, der mir zuruft: Sei frei wie ich. Darum stört uns jede sich aufdringende Spur der despotischen Menschenhand in einer freien Naturgegend, darum jeder Tanzmeisterzwang im Gange und in den Stellungen, darum jede Künstelei in den Sitten und Manieren, darum alles Eckige im Umgang, darum jede Beleidigung der Naturfreiheit in Verfassungen, Gewohnheiten und Gesetzen.“19

Man könnte den sittlichen Impuls, der nach Schiller von allem Schönen ausgeht, nämlich dieses „Sei frei wie ich“, als ,ästhetischen Imperativ’ bezeichnen, der politische Konsequenzen hat. Denn von jetzt an kann das Schöne nicht nur ein „Symbol der Sittlichkeit“,  sondern darüber hinaus  ein ,Korrektiv der Sittlichkeit’ sein. Im Verweilen beim Schönen, bei dessen Betrachtung, genießt der Mensch also nicht nur die Möglichkeit, frei von Fremdbestimmung sein zu können, sondern er bekommt zugleich einen Maßstab, an dem er seine und die Handlungen anderer auf ihren sittlichen Wert prüfen kann. Dass Schiller wie kaum jemand anders ein Gespür dafür hatte, dass sich mit dem Begriff des Schönen keinerlei Zwang verträgt, das hat mit den Erfahrungen seiner Jugend zu tun, die ihn für jede Form von Gewalt sensibilisiert haben.

Wenn es möglich ist, durch den ästhetischen Imperativ „Sei frei wie ich“ das sittliche Empfinden der Menschen zu beeinflussen, dann enthält dieser Imperativ auch die Aufforderung an die Künstler, Schönheit vor allem dort darzustellen, wo schöne Handlungen möglich sind. Und dieser Darstellungsbereich gehört zuerst in die Zuständigkeit des Poeten. Damit hatte Schiller die Grundlage gewonnen, auf der er als Dichter wieder neu beginnen konnte.

Wie gesagt, diese Kallias-Briefe hat Schiller nie veröffentlicht, obwohl die darin geäußerten Gedanken Grundlage für das Verständnis aller seiner klassischen Werke sind. Vielmehr hat er diese Briefe ersetzt durch eine viel abstraktere Theorie, die er 1795 unter dem Titel veröffentlichte: „Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen.“ Er hat diese Briefe geschrieben, während in Frankreich die Revolution in Terror ausartete. Diese „Briefe“ sind nicht leicht zu verstehen und vor allem nicht in ein paar Minuten zu referieren. Deshalb werde ich mich darauf konzentrieren, wie es zu dem Satz gekommen ist, der Mensch sei nur da ganz Mensch, wo er spiele, und wie dieser Spiel-Begriff das bisher Gesagte ergänzt.

Schiller geht davon aus, dass das politische Problem seiner Zeit, also dem Bürger politische Mündigkeit, einzuräumen, nicht mit Gewalt gelöst werden kann. Man muss, so sagt er, ,,[...] um jenes politische Problem in der Erfahrung zu lösen, durch das ästhetische den Weg nehmen [...], weil es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freiheit wandert.“20

Er kritisiert rücksichtslos den zeitgenössischen Staat, der es dem Menschen nur erlaubt, als „Bruchstück“, aber nicht, als ganzer Mensch zu existieren. Zwar sei es bis zu einem gewissen Grad nötig, sich zu spezialisieren, weil sich sonst die menschliche Gattung als solche nicht entwickeln und veredeln könne, aber daraus folge nicht, dass Menschen für spätere, glücklichere Generationen „Sklavenarbeit“ leisteten. Schiller wehrt sich also dagegen, dass Menschenleben mit allen ihren Möglichkeiten als Mittel benutzt werden könnten, um etwas zu schaffen, von dem diejenigen, die sich dafür opfern, gar nichts haben. Das führt zu der berühmten rhetorischen Frage:

    „Kann aber wohl der Mensch dazu bestimmt sein, über irgendeinem Zwecke sich selbst zu versäumen?“21

Wenn diese Frage ein ,Nein’ erheischt, dann ist irgend etwas in der Entwicklung der Menschheit falsch gelaufen, und es müsste gelingen, die durch die Kultur zerstörte Ganzheit des einzelnen Menschen durch eine höhere Kunst wieder herzustellen. Schiller fragt:

  • ,,[...] woran liegt es, dass wir noch immer Barbaren sind? Es muss also, weil es nicht in den Dingen liegt, in den Gemütern der Menschen etwas vorhanden sein, was der Aufnahme der Wahrheit, auch wenn sie noch so hell leuchtete, und der Annahme derselben, auch wenn sie noch so lebendig überzeugte, im Wege steht. Ein alter Weiser hat es empfunden, und es liegt in dem vielbedeutenden Ausdruck versteckt: sapere aude. Erkühne dich, weise zu sein.“22

Es kommt nach Schiller darauf an, den Charakter des einzelnen Menschen zu stärken, damit er den Mut findet, seinen Einsichten entsprechend zu handeln. Wirkliche „Aufklärung des Verstandes“ gehe, so sagt er, vom Charakter aus, „weil der Weg zu dem Kopf durch das Herz muss geöffnet werden. Ausbildung des Empfindungsvermögens ist also das dringendere Bedürfnis der Zeit [...]“23. Und er fährt fort:

  • „Alle Verbesserung im Politischen soll von Veredlung des Charakters ausgehen - aber wie kann sich unter den Einflüssen einer barbarischen Staatsverfassung der Charakter veredeln? Man müsste also zu diesem Zwecke ein Werkzeug aufsuchen, welches der Staat nicht hergibt, und Quellen dazu eröffnen, die sich bei aller politischen Verderbnis rein und lauter erhalten. Jetzt bin ich an dem Punkt angelangt, zu welchem alle meine bisherigen Betrachtungen hingestrebt haben. Dieses Werkzeug ist die schöne Kunst, diese Quellen öffnen sich in ihren unsterblichen Mustern.“24

Aus der Geschichte lässt sich freilich kaum beweisen, dass die schöne Kunst dieses Werkzeug sein kann, denn trotz aller „unsterblichen Muster“ blieben die Menschen barbarisch. Deshalb nimmt Schiller nun einen abstrakten, transzendentalen Weg, um Schönheit als notwendige Bedingung einer humanen Gesellschaft aufzuzeigen. Er geht aus von zwei Trieben, dem sinnlichen Trieb und dem Formtrieb, die sich zu widersprechen scheinen, weil der sinnliche Trieb sich verwirklichen möchte, indem er die Welt verändert, und der Formtrieb bestrebt ist, die Identität des Menschen zu wahren, indem er das Sittengesetz auf alles anwenden will. Während sich die Neigung nur dafür interessiert, ob etwas für jetzt gut ist, sagt, das „moralische Gefühl“,  „das soll sein“ und macht dadurch „einen einzelnen Fall zum Gesetz für alle Fälle“25. Aber, so sagt Schiller, von Natur aus widersprächen sich die beiden Triebe nicht, beide hätten – von Natur aus – unterschiedliche Objekte, weil der Formtrieb sich auf den moralischen Bereich, der sinnliche Trieb sich dagegen auf den sinnlich erfahrbaren Bereich erstrecke.26

Nach Schiller kann sich jedoch kein Mensch als Ganzheit empfinden und glücklich sein, wenn einer dieser Triebe auf das Gebiet des andern übergreift und diesen unterdrückt. Damit dies nicht völlig abstrakt bleibt, will ich an zwei Beispielen zu zeigen versuchen, was mit den Übergriffen der Triebe gemeint sein könnte. Stellen Sie sich vor, die Vorschriften einer Religion sind so rigoros, dass dem einzelnen kaum Raum bleibt, etwas zu tun, das nicht Sünde ist: Dann ist der Formtrieb so übermächtig, dass der betreffende Mensch seelisch zu Grunde geht. Das gilt auch für die Erfahrungen, die Schiller in der Militärakademie gemacht hat. Den umgekehrten Fall haben wir, wenn Töten anderer Menschen zwar grundsätzlich verboten, aber in besonderen Fällen, wie im Krieg, erwünscht ist: Dann ist der sinnliche Trieb übermächtig und das Sittengesetz abhängig vom jeweiligen Vorteil und Nutzen, den es bringt.

Das ideale Verhältnis beider Triebe wäre nach Schiller dort erreicht, wo beide sich gegenseitig in Schranken hielten, wo der Formtrieb vom Menschen nicht verlangte, dass er nicht mannigfaltig sei, und der sinnliche Trieb nicht wollte, dass das Sittengesetz beliebig gehandhabt werde. Gäbe es Fälle, wo der Mensch – so sagt Schiller nun wörtlich – „sich zugleich seiner Freiheit bewusst würde und sein Dasein empfände, wo er sich zugleich als Materie fühlte und als Geist kennenlernte, so hätte er in diesen Fällen, und schlechterdings nur in diesen, eine vollständige Anschauung seiner Menschheit [...]”27. Mit „vollständiger Anschauung seiner Menschheit“ ist gemeint, wenn ein Mensch „seiner Freiheit bewusst würde und sein Dasein empfände“, dann würde er ganz wahrnehmen, was die Gattung des Menschen von allen andern Lebewesen unterscheidet.

Schon nach den Kallias-Briefen ist es die „Schönheit“, in der der Mensch seine sich vollständig in Harmonie befindliche sinnliche und sittliche Natur anschauen kann. Aber anders als dort sagt Schiller nun, wenn ein Mensch diese Anschauung erfahre, so rufe dies in ihm einen neuen Trieb hervor, und diesen Trieb nennt er „Spieltrieb“28.

Der Spieltrieb ,treibt’ den Menschen, sich als moralisch handelnde Person zu fühlen, das heißt, mit der Vorstellung zu spielen, dass er verändernd in die Welt eingreifen und dass er dies moralisch ,gut’ tun kann. Dieser Zustand des Spiels ist der ästhetische Zustand, in dem der Mensch durch den Spieltrieb „sowohl physisch wie moralisch in Freiheit“ gesetzt wird.29  Diesen Spieltrieb erläutert Schiller an einem Beispiel: „Wenn wir jemand mit Leidenschaft umfassen, der unsrer Verachtung würdig ist, so empfinden wir peinlich die Nötigung der Natur.“ In diesem Falle also setzt sich der Geschlechtstrieb als sinnlicher Trieb gegen den Formtrieb durch, der es nicht erlaubt, einen anderen Menschen nur als Mittel zu gebrauchen. Schiller fährt fort: „Wenn wir gegen einen andern feindlich gesinnt sind, der uns Achtung abnötigt, so empfinden wir peinlich die Nötigung der Vernunft.30

Diese Erfahrung machte Schiller zum Beispiel mit Goethe, bevor sie befreundet waren. Es missfiel ihm, dass Goethe sich andern gegenüber verschloss, und er schrieb: „Mir ist er dadurch verhasst, ob ich gleich seinen Geist von ganzem Herzen liebe und groß von ihm denke.“ Die ideale menschliche Beziehung jedoch ist folgendermaßen dargestellt: „Sobald er aber zugleich unsre Neigung interessiert und unsere Achtung sich erworben, so verschwindet sowohl der Zwang der Empfindung als der Zwang der Vernunft, und wir fangen an, ihn zu lieben, d. h., zugleich mit unsrer Neigung und mit unsrer Achtung zu spielen.“31

Der Spieltrieb entsteht also aus dem Bedürfnis, sinnliche Natur und praktische Vernunft in Einklang zu bringen, und wenn dies auf Menschen bezogen gelingt, dann erhält das Spiel den Namen ,Liebe’. Soziale Liebe ist die höchste Form der Humanität. Man könnte also auch sagen: ,Der Mensch ist nur dort ganz Mensch, wo er in diesem Sinne liebt.’

Wenn wir den Schönheitsbegriff Schillers mit dem Kants vergleichen, dann sehen wir, dass bei Kant das Gefühl des Schönen gleichbedeutend ist mit der subjektiven Erfahrung, dass Einbildungskraft und Verstand in Freiheit gesetzt sind und miteinander spielen können. Schillers Schönheitsbegriff dagegen ist von Anfang an erweitert, weil er das Schöne immer mit der moralischen Freiheit verbindet. Deshalb löst bei ihm nicht nur das freie Spiel zwischen Einbildungskraft und Verstand das ästhetische Gefühl aus, sondern es ist das Spiel zwischen sinnlicher und moralischer Natur des Menschen, welches den Spieltrieb hervorruft und stärkt. Der Spieltrieb soll den betreffenden Menschen erfahren lassen, dass er nicht nur schön fühlen, sondern auch schön handeln kann, und in ihm zugleich die Energie freisetzen, dass er dies auch tut. Die nur im Spiel erfahrene Persönlichkeit soll er im praktischen Leben verwirklichen. Alle Überlegungen Schillers laufen hinaus auf den Satz:

  • „Mit einem Wort: es gibt keinen andern Weg, den sinnlichen Menschen vernünftig zu machen, als dass man denselben zuvor ästhetisch macht.“32

Ob eine solche ästhetische Theorie, nachdem sie die Barbareien unseres Jahrhunderts nicht hat verhindern können, heute noch von Bedeutung ist, und was wir mit einem solchen Spielbegriff noch anfangen können, der doch mit dem unsrigen nichts zu tun zu haben scheint, darüber sollten wir sprechen. Lassen Sie mich bezogen auf das Thema des Universitätstages noch so viel sagen: Einer der Gründe, warum Schiller seine ästhetische Theorie entwickelte, hat mit menschenunwürdiger Arbeit zu tun, weil sich im Verhältnis des Menschen zu seiner Tätigkeit zeigt, ob er ein ganzer Mensch oder nur ein „Bruchstück“ dessen ist, was er sein könnte. In den „Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen“ steht:

  • ,,[...] wir sehen nicht bloß einzelne Subjekte, sondern ganze Klassen von Menschen nur einen Teil ihrer Anlagen entfalten, während dass die übrigen, wie bei verkrüppelten Gewächsen, kaum mit matter Spur angedeutet sind.“33 - „Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus; ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft. [...] Der tote Buchstabe vertritt den lebendigen Verstand, und ein geübtes Gedächtnis leitet sicherer als Genie und Empfindung.“34

Nachtrag von Joachim Engelhardt:

In der sich anschließenden lebhaften Diskussion über die mögliche Bedeutung von Schillers Ästhetik für das Thema „Arbeit“ stellte der Referent einige Implikationen von Schillers Ästhetik heraus, die hier thesenhaft wiedergegeben seien:

  • Ohne das Schöne und somit auch ohne schöne Kunst kann sich der Mensch nicht zur Person entwickeln, er kann im engeren Sinne kein Mensch werden.
  • Ohne ästhetische Erziehung ist der Mensch weniger für alle Formen von Gewalt sensibilisiert; bezogen auf den Menschen heißt dies, er nimmt weniger wahr, wo ein Mensch verdinglicht wird.
  • Ohne ästhetische Erziehung verkümmern der Spieltrieb und damit der Antrieb, sinnliches und moralisches Empfinden und Handeln in Übereinstimmung zu bringen und so dem ‘ästhetischen Imperativ’ zu genügen: „Sei frei wie ich“, d. h. verhalte dich so, dass deine freien Handlungen zugleich schöne Handlungen sind.

Beziehe man nun Schillers Ästhetik auf den Aspekt der ,Arbeit’, lasse sich, meinte Binder, daraus die Forderung ableiten, dass Arbeit und Ästhetik nicht getrennt werden dürften. Die Arbeit müsse es sich gefallen lassen, an der Ästhetik gemessen zu werden, damit der Mensch nicht zum ,Bürger zweier Welten’ – hier Arbeit, dort Freizeit – erniedrigt werde. Und ,Spielen’ hätte nicht die Funktion, den Menschen für die Arbeit nur zu regenerieren, sondern diente dazu, ein Instrumentarium auszubilden, das es erlaubt, den Arbeitsprozess kritisch zu beleuchten. Als auch nach zweihundert Jahren noch nicht eingelöste Forderung an ein menschenwürdiges Leben mag daher Schillers Ästhetik auch heute noch ein nicht nur antiquarisches Interesse beanspruchen – soweit sie überhaupt zur Kenntnis genommen wird.

    Anmerkungen

  • * Dieser Vortrag wurde während des 3. Kleinen Universitätstags Ahaus vor Schülerinnen und Schülern der Oberstufen gehalten. Den Titel des Vortrags hatten die Schüler selbst ausgewählt im Rahmen des übergreifenden Themas „Arbeit ohne Sinn – Sinn ohne Arbeit“.
  • 1  Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In: F. Sch.: mtliche Werke. Bd 5. Hrsg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert: 6. Auflage. München 1980. (Künftig zitiert: Werke.) S. 570-669. S. 618.
    2  Zitiert nach: Burschell, Friedrich: Friedrich Schiller in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Hamburg 1958. S. 21 f.
    3  Schiller, Friedrich: Ankündigung der Rheinischen Thalia. In: Werke. S. 854- 860. S. 856.
    4  Vgl. Werke. S. 1295.
    5  Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. Hrsg. von Karl Vorländer. Hamburg 1959. (Künftig zitiert: "Kritik der Urteilskraft".) S. 15.
    6  
    Kritik der Urteilskraft. S. 48.
    7  Kritik der Urteilskraft. S. 59.
    8  Vgl. Kritik der Urteilskraft. S. 26 f.
    9
      Kritik der Urteilskraft. S. 213.
    10 Vgl. Werke. S. 1297.
    11
    Anm. 1. S. 575. (3. Brief.)
    12 Anm. 1. S. 580. (5. Brief.)
    13
    Schiller, Friedrich: Kallias oder über die Schönheit.  Briefe an Gottfried Körner. In: Werke. S. 394-433. S. 400.
    14 Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft. In: I. Kant: Werke.  (Akademie-Ausgabe.) Bd V. (Berlin, 1968), S. 30.
    15
    Kallias-Briefe. S. 400.
    16 Kallias-Briefe. S. 407. (Später nennt Schiller einen solchen Menschen, bei dem Pflicht und Neigung zusammentreffen, eine "Schöne Seele".)
    17 Kallias-Briefe. S. 421.
    18 Kallias-Briefe. S. 422 f.
    19
    Kallias-Briefe. S. 424 f.
    20
    Anm. 1. S. 573. (2. Brief.)
    21 Anm. 1. S. 588. (6. Brief.)
    22
    Anm. 1. S. 591. (8. Brief.)
    23
    Anm. 1. S. 592. (8. Brief.)
    24 Anm. 1. S. 592 f. (9. Brief.)
    25 Anm. 1. S. 606. (12. Brief.)
    26 Vgl. Anm. 1. S. 606 f. (13 Brief.)
    27 Anm. 1. S. 612. (11. Brief.)
    28 Vgl. Anm. l. S. 614. (15. Brief.)
    29 Vgl. Anm. 1. S. 613. (14. Brief.)
    30 Zitiert nach: Burschell (Anm. 2.) S. 94.
    31 Anm. 1. S. 613. (14. Brief.)
    32 Anm. 1. S. 641. (23. Brief.)
    33 Anm. 1. S. 582 f. (6. Brief.)
    34 Anm. 1. S. 584. (6. Brief.)

 

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