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„Betrachtet die Fingerspitzen“
Hinweise auf änigmatische Strukturen in Günter Eichs Werk
Alwin Binder
„Das Ach, das sie [die Macht) enthält, und die Nacht, auf die sie sich reimt, das ist sie [...]“1
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Alfred Andersch veröffentlichte 1949 folgenden Auszug aus einem Brief Günter Eichs:
Die Korrespondenz eines Doppelkonsonanten in der ersten Zeile mit einem in der zweiten kann entscheidender sein als der Gefühls- oder Gedankeninhalt. Überhaupt hat das Handwerkliche einen metaphysischen Rang. Gedichte zu schreiben ist erlernbar. Freilich ist die Lehrzeit schrecklich. Das Handwerkliche betrifft im übrigen nur die Sprache; von Metrik und festen Gedichtformen halte ich garnichts. Sonette sind mir ein Greuel. Auch den Reim sollte man nicht ohne Mißtrauen betrachten.2
Bemerkenswert ist hier, daß Günter Eich von „Handwerklichem“ spricht und, da das Handwerkliche „nur die Sprache“ betreffe, zugleich „Metrik und feste Gedichtformen“, die doch traditionsgemäß zum Handwerklichen des Lyrikers gehören, davon ausschließt. Noch rätselhafter ist diese Aussage dadurch, daß diesem „Handwerklichen“ ein „metaphysischer Rang“ zugesprochen wird. Die Eigenschaft poetischer Sprache, erfahrbare und denkbare Zusammenhänge in besonderer Weise zu bezeichnen, beruht vor allem auf der Mehrdeutigkeit und damit Offenheit ihrer Wörter und Aussagen. Dies gilt auch für die Dichtung Eichs. Und ebenso gilt für diese Dichtung, daß sie Momente der Sprache semantisiert, die in der ‚normalen‘, ‚natürlichen‘, ‚diskursiven‘ Sprache keine Bedeutungen haben. Dazu gehören Betonungs- und Klangkorrespondenzen wie Metrum, Assonanz, Reim, Alliteration usw. Die oben zitierte Briefstelle deutet aber an, daß Günter Eich seiner Dichtung noch auf andere Weise Bedeutung gibt. Wenn der Begriff des „Handwerklichen“ einen Sinn haben soll, wird es sich um Beziehungen handeln, die - als solche - objektiv beschreibbar sind, auch wenn dies bisher nicht. geschehen ist. Ich nenne diese Beziehungen ‚änigmatische Beziehungen‘ und werde nun versuchen, an einigen Beispielen aufzuzeigen, was Günter Eich mit dem „Handwerklichen“ meinen könnte, das „nur die Sprache“, nicht die Ordnung von Versen betrifft.
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1.
Änigmatische Beziehungen sind vielleicht am auffälligsten in Günter Eichs Hörspiel „Das Jahr Lazertis“. Paul - die Hauptperson - erzählt, wie er erwachte und glaubte, „das Wort. Das einzige Wort“ (II 679), wenn auch nicht deutlich, vor dem Fenster gehört zu haben (II 675). Bei der Suche nach dem Sprecher des Worts stößt er auf Laparte. Dieser Name deutet nicht nur an, daß sein Träger ‚teil‘-weise (LA PARTE) mit Paul übereinstimmt (LAParte > PAuL), sondern darin ist bereits anagrammatisch die ‚Krankheit‘ enthalten, die für Paul auf dem Weg nach La Certosa von Bedeutung wird: LAPaRtE > LEPRA. Die Interpreten dieses Hörspiels haben wohl bemerkt, daß sich das Wort „Lazertis“ bedeutungsvoll über „Lazerten“, „Laertes“, „Lazarus“, „la certitude“ zu „La Certosa“ bewegt; gleichzeitig jedoch ist in dieser Wortfolge änigmatisch abgebildet, was Ausgang und Ziel dieser Bewegung ist: laZErTIs > ZEIT und ceRTOsa> ORT. Diesen anagrammatischen Beziehungen korrespondieren auch andere Strukturen des Hörspiels. Da es mit der ‚Endstation‘ der Handlung beginnt, hat es eine zyklische Form, die sich schon als solche mit der Vorstellung einer ‚Verräumlichung‘ der Zeit berührt. Das wird zum Beispiel ergänzt durch folgende Sätze:
Die Palmen vor der Kartause sind ein dichtes Gitter, vor dem ein Menschenschritt ebenso anhält wie die Zeit. [...] Zeit, das ist die Farbe einer wilden Rose geworden und das Schillern einer Schlangenhaut. (II 675)
Ein Zusammenhang zwischen dem ‚Anhalten‘ der Zeit und der „Farbe einer wilden Rose“ zeigt sich, wenn man bedenkt, daß ORT ein Anagramm von ROT ist. Die Verräumlichung der Zeit erhält jedoch eine genauere Qualität, sobald man in „Rose“ das Anagramm von EROS sieht. Es kann andeuten, daß in La Certosa die Zeit nicht nur in Raum, sondern auch in Liebe verwandelt ist. Diese Bedeutungsmöglichkeit wird auf zweifache Weise unterstützt: Im Wort „Certosa“ sind neben ORT auch EROS und ROSE enthalten: cERtOSa; aber noch ‚offensichtlicher‘ erscheint dieses Anagramm im Wort „Leprosenheim“ (II 706), als das La Certosa auch bezeichnet wird: lEpROSEnheim. Als „Leprosenheim“ könnte „La Certosa“ die Stätte sein, wo sich Zeit und Ort, die Bedingungen menschlichen Daseins und menschlicher Erkenntnis, als Liebe - im Sinne von humanem Handeln - verwirklichen. Die schon auf diese änigmatische Weise angedeutete Gesellschaftsform der Liebe wird gegen Ende des Hörspiels konkreter dargestellt, indem Paul sich entschließt, in La Certosa zu bleiben: „Gewiß, sie konnten alle auch ohne mich sterben, aber ich konnte nicht ohne sie leben.“ Der Schluß heißt: „Dann rief Manuela wieder. Ich ging hinaus, um zu fragen, was sie wollte“ (II 711 f.).3
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2.
„Das Jahr Lazertis“ ist die in Bild und Handlung übersetzte ‚Offenbarung‘ eines poetischen Prinzips, woran sich nicht nur erkennen läßt, wie Eich seine Sprache und seine Aussagen verbindet, sondern möglicherweise auch, wie die Suche nach änigmatischen Verknüpfungen seine Dichtung thematisch (mit-)generiert. Zum Beispiel beginnt das Gedicht „Ende August“ mit dem Satz:
Als mögliches Initial-Wort (‚Ur-Wort‘) läßt sich „Schilf“ erkennen, denn in diesem Wort ‚hängt‘ anagrammatisch FISCH. Die Beschreibung dieses Sachverhalts ergibt den Satz: ‚Der Fisch hängt im Schilf.‘ Die Aussagen der ersten Versgruppierung dieses Gedichts lassen sich als Modifikation dieses Satzes verstehen. Eine ähnliche Funktion scheint in der zweiten Versgruppierung das Wort „Weidengestrüpp“ zu haben:
Der Mond glänzt im Weidengestrüpp, vereint mit dem Abendstern.
In weideNgESTRüpp ist der STERN bereits enthalten, der dann als „Abendstern“ präzisiert wird. In gewisser Weise kann man aber auch den Mond als ‚Abendstern‘ auffassen. Dann wird die Bezeichnung „Abendstern“ frei für die Konnotation ‚Venus‘. Andeutungsweise, zum Teil nur phonetisch, ist auch dieses Wort in WEideNgeStrUepp erkennbar. Diese Bedeutungsvariante ist um so gewichtiger, als in ‚Wirklichkeit‘ der Mond kaum mit dem Abendstern vereint „glänzt“. In der auf „Abendstern“ folgenden Zeile scheint sich dann aus der Buchstabengruppe STERN das bedeutende Wort „Unsterblichkeit“ (uNSTERblichkeit) zu generieren:
Wie nahe bist du, Unsterblichkeit, im Fledermausflügel, im Scheinwerfer-Augenpaar, das den Hügel herab sich naht.
In diesem reimlosen Gedicht weist der Binnenreim „-flügel“-“Hügel“ auch auf deren anagrammatische Beziehung LÜGE hin, die sich mit „Scheinwerfer“ bedeutungsvoll verbindet. Manchmal erscheinen die Initial-Wörter als Gedichtüberschriften. Wer der Aufforderung „Lesen im Gewitter“ (I 100) ‚buchstäblich‘ folgt, kann in „Gewitter“ eine Fülle von Wörtern lesen, von denen die folgenden sich auf den Textinhalt beziehen lassen: WETTER, WEGE, WEITER, WEITE, WERTE, GEWE[H]R, TIERE, RETTE, EITER, engl. WET (naß, falsch, unrichtig), WIT (Verstand). Auch der als Überschrift formulierte Appell „Betrachtet die Fingerspitzen“ (I 96) ist ‚buchstäblich‘ zu nehmen: ENG, RING, SPEER, FREI, REIGEN, REGEN, NEGER, SPITZ, ZEIT, ZEIGER, GIER, GEIER, RITZEN, NETZE, PEST usw. Also bereits, wenn man der Aufforderung nachkommt: „Betrachtet die Fingerspitzen, ob sie sich schon verfärben“, läßt sich erkennen, daß in ihnen die „Pest“-jedenfalls potentiell-anwesend ist. Und auch der Schlußsatz:
Wenn sie sich schwarz färben, ist es zu spät.
erfährt durch die ‚Betrachtung‘ der „Fingerspitzen“ eine Antwort: NEGER enthält die Bedeutung ‚schwarz‘. Dem Zu-spät-Sein entspricht, daß die letzte Zeile schon nach dem vierten Wort abbricht. Das letzte Wort „spät“ ist aber phonetisch ein Anagramm von „Pest“ (PÄST). Dadurch wird möglicherweise ‚abgebildet‘, daß „Pest“ nicht nur eine ‚Zeit‘- sondern auch eine ‚Sprachkrankheit‘ bedeutet und daß die Reflexion der menschlichen ‚Hand-lungen‘ („Fingerspitzen“ als pars pro toto für ‚Hand‘), identisch sein sollte mit der Reflexion der Sprache, durch die sich die Handlungen verwirklichen.
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3.
Das Verfahren, durch änigmatische Beziehungen den Gehalt der Texte zu erweitern, läßt sich schon an dem Gedicht „Inventur“ (I 35) beobachten:
Inventur
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Dies ist meine Mütze dies ist mein Mantel, hier mein Rasierzeug im Beutel aus Leinen.
Konservenbüchse: Mein Teller, mein Becher, ich hab in das Weißblech den Namen geritzt.
Geritzt hier mit diesem kostbaren Nagel, den vor begehrlichen Augen ich berge.
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Im Brotbeutel sind ein Paar wollene Socken und einiges, was ich niemand verrate,
so dient es als Kissen nachts meinem Kopf. Die Pappe hier liegt zwischen mir und der Erde.
Die Bleistiftmine lieb ich am meisten: Tags schreibt sie mir Verse, die nachts ich erdacht.
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Dies ist mein Notizbuch, dies meine Zeltbahn, dies ist mein Handtuch, dies ist mein Zwirn.
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Die „Ortung des Poeten“ geschieht hier nicht nur durch „poetische Ordnung“, wie Jürgen Zehnke es mit der Überschrift seines Aufsatzes ausdrückt.4 Schon die anagrammatischen Beziehungen eines einzigen Worts können die Bedeutung des Textes vertiefen: „KonSERVEnbüchse“ > VERSE; diese eingeschlossenen, verschlüsselten ‚Verse‘ erscheinen in der sechsten Strophe wörtlich. Der hier wahrnehmbare änigmatische Zusammenhang verdeutlicht, daß die in diesem Gedicht gemeinte „Konservenbüchse“ als „Teller“ und „Becher“ sich metonymisch mit VERSE berührt. Als ‚Inhalt‘ der „Konservenbüchse“ wären die VERSE - die zugleich pars pro toto für ‚Dichtung‘ sind - als ‚Nahrung‘ zu verstehen. Die Vorstellung, Dichtung sei mit Nahrungsmetaphorik beschreibbar, hat eine lange Tradition5 und könnte in der „Konservenbüchse“ ‚kon- serviert‘ worden sein. Ein weiterer Bereich, der traditionsgemäß Dichtung symbolisiert, ist die Textilmetaphorik (Textor = Weber; Geflecht, Gewebe = Text). Beide Bereiche sind semantisch verbunden in dem Wort „Brotbeutel“. Aufgrund dieser Beobachtungen leuchtet vielleicht ein, daß „Konservenbüchse“ auch das aus Versen bestehende und „Verse“ enthaltende Gedicht „Inventur“ meint. Jede der deiktischen Aussagen läßt sich so auffassen, also ob sie auf sich selbst verwiese: „Dies ist meine Mütze“ hieße dann: ‚Dieser Vers ist meine Mütze‘, und verallgemeinert würde sich jede Aussage auf das ganze Gedicht bzw. auf die Dichtung beziehen. Dadurch könnte deutlich werden, daß es in „Inventur“ nicht nur darum geht, dem Dichter „die Gewißheit [zu] verschaffen: Ich dichte, also bin ich“,6 sondern auch um eine generelle Bestandsaufnahme und Funktionsbestimmung dessen, was Dichtung sein soll.
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4.
In extremer Weise wendet Günter Eich sein Verfahren, mit Hilfe änigmatischer Beziehungen Bedeutung zu schaffen, in den Maulwürfen an. Es soll hier punktuell gezeigt werden, wie notwendig es ist, solche Beziehungen für das Verständnis der Texte zu berücksichtigen. Der Maulwurf „Späne“ beginnt mit dem Satz: „Wäre ich kein negativer Schriftsteller, möchte ich ein negativer Tischler sein“ (I 317). Dieser „Tischler“ ist in SCHRIfTstELler bereits enthalten. Das kann andeuten, daß der „negative Tischler“ die Allegorie des „negativen Schriftstellers“ ist. Wenn ein ‚positiver Tischler‘ hobelt, so müßte ein „negativer Tischler“ an gehobelten Brettern so lange die ‚Hobelspäne‘ wieder anleimen, bis sie in individuelle Bäume zurückverwandelt wären. Entsprechend wäre es der ‚Beruf‘ des „negativen Schriftstellers“, aus ‚angepaßten‘, ‚gefügigen‘ Menschen wieder (oder allererst) ‚ungehobelte‘ und ‚ungeglättete‘ Individuen zu machen. Die „Eselsohren“ in „Ein Nachwort von König Midas“ enthalten anagrammatisch u.a. LESEN, SEHEN, HOEREN und EHRE. ‚Ehre‘ berührt sich mit der „Verleihung der Eselsohren“, die drei übrigen Bedeutungen beziehen sich auf die „Tauben und Blinden“, die mit den „Lahmen“, „Schwachsinnigen“ und „Eselsohrigen“ die von „Apollon“ „geschlagenen Brüder“ bilden. Das zusammen deutet vielleicht an, daß derjenige, der zu sehen, lesen und hören versteht und demzufolge für die „Tauben und Blinden“ handeln könnte, so lange Narrenfreiheit genießt, solange es Apollon als Vertreter der Macht gelingt, alle anderen mit „seinem harmonischen Gewinsel“ hinzureißen: „Nun beten sie Apollons Harmonie an, die darin besteht, daß man alles wegläßt, was sie stören könnte [...], ja, wenn man Messer und Stricke genug hat, ist alles in Harmonie.“ Von dem, was „alles in Harmonie“ ist, sind - in diesem Zusammenhang eher als AMOR - unter den Vorzeichen NIE und OHNE folgende Gewaltbegriffe bemerkenswert: ARM, MONE(Y), HARM, NORM, MORE(S), ARME(E), MINE. „Messer und Stricke“ wären hier vertreten durch Geld, Gesetze und Waffen.
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5.
Der Maulwurf „Kalauer“ ist deshalb besonders beachtenswert, weil er das Prinzip zu thematisieren scheint, das die Struktur eines großen Teils der Dichtung Eichs bestimmt:
Kalauer
- Die Etymologie hat nachgewiesen, daß Kalauer nicht aus Calau stammen. Sie stammen aus Luckau. Ich weiß es, ich bin im Grenzgebiet beider Kreise aufgewachsen. Luckau hat eine Strafanstalt, Calau hat garnichts.
- Die kleinen, doldenförmig angeordneten Blüten brechen schon zeitig aus dem noch gefrorenen Boden. Sie sind anspruchslos; wenn es keinen Regen gibt, ist ihnen auch ein Vortrag recht. Für Sonne bedanken sie sich. Sie sind lila und haben meine Jugend koloriert. Ich fände die Neubildung Kalukkauer recht glücklich.
- Luckau hat keine großen Söhne, nur Zugereiste, was durch die Strafanstalt bedingt ist. Liebknecht hat hier Briefe geschrieben, es hat nichts genützt.
- Wie gesagt, Kalauer sind keine Steigerung von Calau. Aber mir sind sie recht. Eine Möglichkeit, die Welt zu begreifen, vielleicht die einzige, anspruchslos und lila. (I 305)
In diesem Text lassen sich folgende kalauerische Beziehungen erkennen: „Calau“ - „Luckau“, die dann zusammengefaßt den neuen Kalauer „Kalukkauer“ ergeben. An „Kalauer“ könnte sich aber auch ‚Klauer‘ anschließen. Damit wäre eine Verbindung zur „Strafanstalt“ hergestellt. Daneben gibt es das Wort „Kaukalideen“,7 aus dem sich die Kalauer ‚Kaukal-Ideen‘ und ‚Kalau-Ideen‘ bilden ließen. „Kaukalideen“ sind „Dolden- gewächse“, haben also „doldenförmig angeordnete Blüten“, und „Caucalis“, das ebenfalls in einem kalauerischen Verhältnis zu „Calau“ steht, bedeutet soviel wie „Haftdolde“.8 Auch auf diese Weise stellt sich eine Beziehung zu einer „Strafanstalt“ (‚Haft‘-Anstalt) her.9 Schon die Begrifflichkeit der „Etymologie“ verwendet Metaphern aus dem Pflanzenbereich: Wort-‚Wurzel‘, Wort-‚Stamm‘; daran schließt sich das Bild von den „doldenförmig angeordneten Blüten“ bruchlos an. Jede kalauerische ‚Stilblüte‘ steht zu dem abgewandelten Wort (‚Stielblüte‘) in einem etymologischen oder scheinetymo- logischen Verhältnis, wobei die etymologische Verbindungsstelle dem Ausgangspunkt der Doldenblüten gleicht. Es gibt bei Günter Eich ‚offene‘ Kalauer wie z.B., wenn Wassilij über die Träger im Urwald sagt „Treu und nicht teuer“ (II 308). Meistens jedoch ist der Rezipient aufgefordert, den ‚Kalauer‘ erst herzustellen, indem er mit seinem Verstand ‚witzige‘, d.h. im Kontext sinnstiftende Beziehungen erkennt. Dabei kann - wie oben gezeigt wurde - schon ein einzelnes Wort eine große ‚Dolde‘ sein, aus deren Stiel sich vielfältige ‚Kalauertrauben‘ und ‚Kalauerrispen‘ entwickeln. Die Kuriosität des Maulwurfs „Kalauer“ ist nun die, daß es „Calau“ und „Luckau“ als Orte tatsächlich gibt, sie nahe beieinander liegen, Günter Eich im Grenzgebiet beider Kreise aufgewachsen ist10 und Luckau eine Strafanstalt hat, in der Karl Liebknecht in Haft war.11 Dieser Realitätsbezug des „Kalauers“ kann darauf verweisen, daß jeder Kalauer, d.h. jede ‚witzige‘ Beziehung einen Realitätsbezug hat und einen ‚Ausbruch‘ aus dem ‚gefrorenen‘, verkrusteten Denken darstellt. Günter Eich scheint darauf zu bestehen, daß jede Beziehung von Bedeutung sein kann, auch wenn sie nur durch die ‚unbedeutende‘ und ‚zufällige‘ Gemeinsamkeit einiger Lautzeichen zustande kommt. In gewisser Weise behandelt Eich die Lautschrift wie eine Schrift aus Hieroglyphen und vermutet, daß ‚Dinge‘, die ähnlich bezeichnet sind, auch ‚reelle‘ Ähnlichkeit haben.12
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6.
Mit änigmatischen Beziehungen zu spielen, wie sie hier für Günter Eichs Texte festgestellt wurden, hat eine lange Tradition. Es wird kaum einen Dichter geben, der damit nicht hin und wieder arbeitet, indem er zum Beispiel aus einer Reihe von Synonymen das Wort auswählt, das auch noch eine änigmatische Verbindung zu seinem Text hat. In Goethes „Alexis und Dora“ heißt es:
[...] So leget der Dichter ein Rätsel, Künstlich mit Worten verschränkt, oft der Versammlung ins Ohr. Jeden freuet die seltne, der zierlichen Bilder Verknüpfung, Aber noch fehlet das Wort, das die Bedeutung verwahrt. (V. 25-28)
In der fünften Römischen Elegie zum Beispiel ist das anagrammatische Spiel mit AMOR-ROMA-MARmOr, an das sich die Klangkorrespondenzen fORMen-ARMen-hexAMeteR anschließen, deutlich zu sehen. Nicht so ‚offen-sichtlich‘, aber nicht weniger bedeutend sind die änigmatischen Beziehungen im Anfangsdistichon der ersten Römischen Elegie:
Saget, Steine, mir an, o sprecht, ihr hohen Paläste! Straßen, redet ein Wort! Genius, regst du dich nicht?
Der genius loci, der mit „Genius“ zunächst gemeint ist, erscheint änigmatisch in der Verbindung wORT GENIUS. Im „Wort“ „Genius“ findet sich aber auch auf änigmatische Weise das letzte Glied der Klimax „Saget“ - „sprecht“ - „redet“: ‚singe‘ «GENIuS). ‚Singen‘ als die ‚genuine‘ Ausdrucksform des Dichters ist hier ‚abgebildet‘ als Wesensmerkmal des Genies. Die in Günter Eichs Werk explizit vorhandenen Hinweise auf Hölderlin legen es nahe, gerade auch dort ein Vorbild zu suchen. Mindestens zweimal finden sich Anspielungen auf Hölderlins Gedicht „Andenken“.13 Darin stehen die Verse:
„Eiche“ und „Pappel“ sind hier änigmatisch durch LIEB < sILBEr) verbunden, und es wird dadurch erläutert, warum das „Paar“ als „edel“ bezeichnet werden kann. Sowohl LIEB wie das ebenfalls in „Silber“ erkennbare Wort SILBE (pars pro toto für ‚Sprache‘) verweisen auf den Schluß des Gedichts:
Und die Lieb’ auch heftet fleißig die Augen, Was bleibet aber, stiften die Dichter.
Der Schlußvers mag ‚wörtlich‘ gelesen heißen: „Nicht schon seine Taten machen den Helden unsterblich, sondern erst der rühmende Dichter.“14 Es ist aber so deutlich eine ‚buchstäbliche‘ Beziehung zwischen LIEB’ und bLEIBEt zu erkennen, daß sie in die interpretierende Reflexion einbezogen werden müßte: Liebe ist dann das Maß, unter dem Taten, und zwar von den „Dichtern“, zu beurteilen sind. Die „Dichter“ erscheinen als diejenigen, die die Erkenntnis („Augen“) ‚mit Fleiß‘ (d.h. absichtsvoll) auf das hinlenken, was der Liebes-Taten bedarf; sie greifen aber auch dadurch vorbildend in die Geschichte ein, daß sie nur solche Taten bewahren, denen Liebe innewohnt und die es deshalb wert sind, im „Andenken“ zu bleiben. Georg Trakl kann ebenfalls als Vorbild Günter Eichs gelten, und auch bei ihm sind, wenn er verstanden werden soll, die änigmatischen Strukturen zu berücksichtigen. Zum Beispiel enthält das Gedicht „Im Dorf“15 viele signifikante anagrammatische Verweisungen. So heißen etwa die jeweils zweiten Wörter der ersten und zweiten Strophe „braunen“ bzw. „Bauern“ und interpretieren sich auf diese Weise gegenseitig. Noch ‚verwandter‘ mit Eich sind folgende Verse des Gedichts:
Der Saum des Walds schließt blaue Tiere ein, Das sanfte Laub, das in die Stille fällt.
Hier machen zunächst die Anagramme BLAUe und LAUB auf entsprechende Strukturen aufmerksam und verweisen dadurch auf „Saum“, das als Anagramm von MAUS eines der „blauen Tiere“ bezeichnet, das es vielleicht im Laub (den ‚Blättern‘) der Sprache zu suchen gilt. Diese Verse lassen sich lesen wie eine poetische Poetologie Trakls. Änigmatische Strukturen bilden ein System von Wegen, das eine Art ‚Unterbewußtsein‘ repräsentiert, das ‚gewöhnlich‘ von der ‚Oberfläche‘ der Sprache verdeckt wird, oder anders gesagt: es sieht so aus, als ob die oberflächlichen Aussagen Signale enthielten, die auf ‚tiefere‘ Dimensionen der Texte verweisen und in die Interpretation der Texte einzubeziehen sind. Als ‚Mäuse‘ sind die „blauen Tiere“ Trakls nicht wesentlich verschieden von „Maulwürfen“ Eichs. Freilich sind diese „Maulwürfe“, wegen ihrer ‚Blindheit‘ und weil sie die Oberfläche gänzlich vermeiden, ‚radikaler‘ als die ‚Mäuse‘ Trakls. Eich genügen so äußerliche Beziehungen wie zum Beispiel die räumliche Nähe der Begriffe in einem Lexikon, um durch maulwurfartige Arbeit in der ‚Erde‘, die ein Anagramm von ‚Rede‘ ist, Zeichen (‚Maul-wurfhügel) dafür zu setzen, daß es keine ‚zufälligen‘, sondern nur ‚bedeutende‘ Beziehungen gibt. Wie der anfangs zitierte Brief zeigt, sprach Eich dieser Arbeit zunächst einen „metaphysischen Rang“ zu, vielleicht in dem Sinne, daß der Dichter die Schöpfung als ein großes göttliches ‚Wort‘ begreift und deutet. Mit zunehmendem Alter freilich wird seine Dichtung mehr und mehr ein Gleichnis dafür, daß alles miteinander in Beziehung gebracht werden kann und muß, wenn die Welt humaner werden soll: „Alles, was geschieht, geht dich an“ (II 289).16
Westfälische Wilhelms-Universität Münster
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NOTES
1 Günter Eich, Gesammelte Werke. 4 Bde. (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1973) IV: 449. (Auf diese Ausgabe beziehen sich die in Klammern angegebenen Band- und Seitenzahlen, die den Zitaten nachgestellt sind.) 2 Zitiert nach Alfred Andersch, „Freundschaftlicher Streit mit einem Dichter“, Frankfurter Hefte 4 (1949): 150-154, hier 150. 3 Durch das Hörspiel zieht sich eine Kette von Wörtern, in denen anagrammatische Formen von ORT enthalten sind: wORT (II 675), TORbogen (II 679), geTROpft (II 681), ROTe, vicTORia (II 681), maTROse (II 682), pORTugiesisch (II 684), ROT (II 687), transpORT (II 691), sTROmaufwärts (II 692), ORT (II 693), ROTwein, TROtzdem (II 694), fORT (II 697), beantwORTet, dORT, verantwORTung (II 698), sTROm (II 399), konTOR, pORTemonnaie (II 700), alligaTORen (II 702), peTROleumlicht, ROT, gesTORben (II 703), laboraTORium (II 705), auTORität (Il 709), TORwächter (II 711). Sicher ist es schwer vorstellbar, daß ein Hörspiel ohne Wörter auskommen soll, die Kombinationen der Buchstaben 0, R, T enthalten. Aber in diesem Hörspiel sind solche Beziehungen und ihre Häufung bezeichnend, weil sie auf das Thema des Hörspiels verweisen. „Certosa“ ist das einzige dieser Wörter, das die Kombination RTO hat. Es ist ein Wort, in dem ORT auf besondere Weise verwirklicht zu sein scheint, und wohl auch deshalb gilt ihm von Anfang an die Suche. Lapartes Bemerkung, „d a s Wort“ enthalte „kein A“ (II 678), bezöge sich demnach auf das änigmatische Wort im Wort „Certosa“. - Besonders auffällig sind Zeit und Ort thematisiert in Eichs letztem Hörspiel „Zeit und KaRTOffeln“ - hier erscheint ‚Ort‘ wiederum in der eigenartigen und wohl auch seltenen Form RTO wie in ceRTOsa -, aber auch im Gedichtzyklus Botschaften des Regens werden viele Gedichte änigmatisch auf Kombinationen der Buchstaben 0, R, T bezogen. Schon im ersten Satz wird dieser ‚Akkord‘ angeschlagen: „Wer möchte leben ohne den TROst der Bäume!“ (I 79) Und der Zyklus schließt mit einem Gedicht, das „regenTROpfen“ (I 102) enthält, so daß man meinen könnte, TRO gehöre zu den „Botschaften des Regens“. Bei den Wörtern „TROglodytisch“ (I 80), „pORTugal“ (I 97) und „hORTense“ (I 99) hat man den Eindruck, als ob sie vor allem wegen ihrer Beziehung zu ORT / TOR / ROT im Zyklus stehen. - Ein ‚Einssein‘ von Liebe und Zeit ist auch angedeutet in dem Satz aus dem Gedicht „Lesen im Gewitter“: „Für die Zeit des Blitzes; gewinnt dein Auge; seine Unschuld zurück [...]“ (I 100), da „Blitzes“ u.a. LIEB, ZEIT und ZIEL änigmatisch enthält. - Mit dieser Art von Anagrammatik (es handelt sich ja in den seltensten Fällen um Anagramme im strengen Sinn) hat Günter Eich schon begonnen, als er seine Jugendgedichte unter dem Pseudonym „ErICH Günter“ (IV 477) veröffentlichte. 4 Jürgen Zehnke, Poetische Ordnung als Ortung des Poeten. Günter Eichs “Inventur“, Gedichte und Interpretationen. Bd 6: Gegenwart, hg. v. Walter Hinck. (Stuttgart: Reclam, 1982): 72-82. (Zehnke war wohl kaum bewußt, wie genau er in seiner Überschrift ‚handwerkliche‘ Strukturen in Eichs Dichtung ‚abbildet‘.) 5 Im „Vorspiel auf dem Theater“ in Goethes Faust zum Beispiel wird Dichtung in Analogie sowohl zur Nahrung wie zur Weberei gesetzt. (Vgl. Alwin Binder, Das Vorspiel auf dem Theater. Poetologische und geschichtsphilosophische Aspekte in Goethes Faust-Vorspiel. [Bonn: Bouvier, 1969] - Alwin Binder, Hexenpoesie. Die “Hexenküche” in Goethes “Faust” als Poetologie, Goethe-Jahrbuch 97 [1980]: 140-197, hier 179 ff.) 6 Zehnke, Poetische Ordnung als Ortung des Poeten, S. 81. 7 Meyers Konversationslexikon. 6. Aufl. Bd 19 (Leipzig und Wien, 1908) 887. 8 Meyers enzyklopädisches Lexikon. Bd 5 (Mannheim, 1972) 392. 9 Auf lexikalische Zusammenhänge in seiner Dichtung weist Günter Eich dadurch hin, daß er immer wieder die Stichwörter auf den Buchrücken von Meyers Konversationslexikon, 6. Auflage, zitiert. Zum Beispiel: „Schöneberg und Sternbedeckung“ (I 131); „Differenzgeschäfte bis Hautflügler“ (I 294) usw. Auf lexikalische Zusammenhänge in seiner Dichtung weist Günter Eich dadurch hin, daß er immer wieder die Stichwörter auf den Buchrücken von Meyers Konversationslexikon, 6. Auflage, zitiert. Zum Beispiel: „Schöneberg und Sternbedeckung“ (I 131); „Differenzgeschäfte bis Hautflügler“ (I 294) usw. 10 Günter Eich wuchs in Lebus an der Oder auf (IV 477). 11 Vgl. Karl Liebknecht, Briefe aus dem Felde, aus der Untersuchungshaft und aus dem Zuchthaus. (Berlin, 1920) Darin: „Briefe aus dem Zuchthause (11. Dezember 1916 - 8. September 1918)“, alle datiert in Luckau. 12 Ganz ungewöhnlich ist dies freilich nicht. Denn genau besehen bezeichnen auch Reim, Assonanz und Alliteration ‚kalauerische‘ Verhältnisse, und dennoch strengen sich Poeten schon über tausend Jahre an, gerade zwischen Wörtern, die unter diese Bezeichnungen fallen, Bedeutungszusammenhänge aufzuzeigen und dadurch die Lautverhältnisse zu semantisieren. 13 Es gibt einen Maulwurf mit der Überschrift „Hölderlin“ (I 333) und ein Gedicht mit der Überschrift „Andenken“ (I 90). In Eichs Gedicht „Latrine“ werden Verse aus Hölderlins Gedicht „Andenken“ zitiert: „Geh aber nun und grüße / die schöne Garonne -“ (I 37). 14 Friedrich Beißner: [Kommentar zu Vers 59.] Friedrich Hölderlin, Werke. Große Stuttgarter Ausgabe, hg. v. Friedrich Beißner. Bd 2,2. 1951, 807.-Es ist denkbar, daß Eichs Berufung auf das Handwerkliche der Dichtung folgende Stelle in Hölderlins „Anmerkungen zum Odipus“ zur Grundlage hat: „Der modernen Poesie fehlt es aber besonders an der Schule und am Handwerksmäßigen, daß nemlich ihre Verfahrungsart berechnet und gelehrt, und wenn sie gelernt ist, in der Ausübung immer zuverlässig wiederhohlt werden kann.“ (Hölderlin, Werke, 5, 1952, 195.) 15 Georg Trakl, Das dichterische Werk. Auf Grund der historisch-kritischen Ausgabe von Walther Killy und Hans Szklenar, 2. Aufl. (München: deutscher Taschenbuch Verlag, 1973) 37. 16 Meine Ausführungen sollten plausibel machen, daß ohne änigmatische Analyse in Günter Eichs Werk möglicherweise semantische Dimensionen unerkannt bleiben, die zu einem genaueren Verständnis der Texte führen könnten. Freilich kann die Analyse änigmatischer Beziehungen dazu führen, statt argumentativ zu interpretieren, sich in unendliche Spekulationen zu verlieren, die mit der Gesamtstruktur des jeweiligen Textes nicht zu verbinden sind. Hier ist also fast noch mehr als sonst der Grundsatz zu beachten, daß ein Analyse-Ergebnis für die Interpretation nur insoweit brauchbar ist, wie es als Argument andere Beobachtungen unterstützt. (Vgl, Alwin Binder und Heinrich Richartz, Lyrikanalyse. Anleitung und Demonstration an Gedichten von Benjamin Schmolck, Frank Wedekind und Günter Eich [Frankfurt a. M.: Scriptor, 1984] 14-33.)
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