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     Klopstocks Gedicht "Der Unschuldige"

Alwin Binder

Klopstocks Gedicht „Der Unschuldige“
als Modell ,poetischer Sprache’

Jedermann sieht ein, daß die Sprache der Mathematik mit großem Zeitaufwand gelernt sein muß, wenn Mathematik verstanden werden soll. Dagegen ist die Meinung verbreitet, Poesie könne man unmittelbar verstehen. Aber auch von Gedichten, Romanen, Dramen, Filmen usw. nimmt ein Rezipient wenig wahr, das mehr wäre als Paraphrase, wenn er sich nicht bewußt ist, daß poetische Sprache sich wesentlich von natürlicher Sprache unterscheidet und daß er ohne Kenntnis dieser Sprache zur Poesie keinen Zugang hat.
   
Bei der Suche nach einem Text, der als Demonstrationsobjekt poetischer Sprache geeignet wäre, entschied ich mich für Klopstocks Gedicht Der Unschuldige [1], weil es die Schüler nicht animiert, es in ihren Erfahrungsbereich einzubeziehen, sondern sie zunächst eher abstößt:
   
Alles, was während der Beschäftigung mit dem Gedicht verstanden und erkannt wird, beruht auf der Beschäftigung mit diesem Text.

    Der Unschuldige

    Viel der Beziehungen sind im Gedichte, wodurch es die Teile,
    Wie in dem süßen Bund inniger Liebe, vereint
    .
    Jene dürfen auf sich mit dem Finger auch weisen; doch geben
    Öfter (des Schönen Gesetz will es so) Winke sie nur.
    Schlummert bei den Beziehungen dir dein Auge, so tappest
    Du im Dunkeln umher, ohne des Dichtenden Schuld.
    Zürne du dann nicht mit dem Liede, daß du es nicht fassest;
    Laß die Unschuld in Ruh, Gähnender, zürne mit dir.[2]

     

Auf die – wie zu zeigen sein wird, sinnlose – Frage, ,was Klopstock uns mit diesem Text sagen wolle, könnte sich die Antwort im folgenden Rahmen bewegen: Klopstock macht zuerst Aussagen über das Gedicht“ und zieht dann Folgerungen aus diesen Aussagen, die den Rezipienten des „Gedichtsbetreffen. Aus dem Hinweis, daß das „Gedicht“ seine Teile durch viele Beziehungen wie in einem Liebesbund vereint und diese Beziehungen meistens nicht offen zutage liegen, zieht er den Schluß, daß derjenige, der zu faul ist, um auf diese Beziehungen zu achten, das „Gedicht“ nicht verstehen kann. - Im allgemeinen geben sich Absolventen Höherer Schulen mit dieser ,Interpretation‘ zufrieden.

    Ich will nun versuchen, poetische Aussagen des Gedichts zu beschreiben. Dabei simuliere ich keine Unterrichtssituation, sondern biete dem Lehrer Einzelbeschreibungen von Aspekten der Struktur des Gedichts an, mit deren Hilfe er seinen Unterricht je nach Unterrichtsinteresse, Unterrichtsform und Unterrichtsverlauf gestalten kann. Die hermeneutische Bewegung des Interpretierens erlaubt verschiedene, nicht logisch vorschreibbare ,Zugänge' zum Gedicht.[3] „Ich setze also voraus, daß ein ,Lehrer‘ guten Unterricht machen kann, wenn er den Unterrichtsgegenstand genau kennt.

1.
Es ist für das Verständnis eines Gedichts fast immer eine ,aufschlußreiche‘ Aufgabe, wenn man herauszufinden sucht, in welcher ‚Situation‘
[4]
der Gedicht-Text gesprochen sein könnte. Schon die Überschrift des Klopstock-Gedichts verweist auf die Möglichkeit einer Gerichts-Situation: Es ist denkbar, daß das Gedicht antwortet auf die Klage eines Lesers (Käufers), der den Verfasser des Gedichts beschuldigt, daß er, entgegen dem Augenschein, kein Gedicht geliefert habe.[5] Unter dieser Voraussetzung fungierte das Gedicht als Verteidigungsrede des „Dichtenden“ auf die Beschuldigung des Klägers (das „Du“, der „Gähnende“), das Gedicht des „Dichtenden“ sei so dunkel, daß sich die Aussagen nicht „fassen“, also nicht begreifen ließen. Diese - hypothetisch angenommene - Gerichtssituation erweist sich für das Verständnis des Gedichts als hilfreich und soll den weiteren Ausführungen zugrunde gelegt werden.[6]
   
Der Konflikt scheint unterschiedliche Auffassungen vom Wesen und Verstehen der Dichtung zu betreffen. Während für den Kläger Klarheit, Durchschaubarkeit unabdingbare Eigenschaften eines Gedichts zu sein scheinen, sieht es so aus, als ob für den „Dichtenden“ die Dunkelheit der Aussagen solange nicht als Mangel eines Gedichts gelten könne, wie es möglich sei, durch aktive, aufmerksame Mitarbeit das „Lied“ zu „fassen“.
   
Der Rezipient des Klopstock-Gedichts ist nun aufgefordert, als Richter zu entscheiden, wessen Auffassung von Dichtung richtig ist. Als Beispiel, an dem sich die Rechtmäßigkeit der Position überprüfen läßt, dient das Klopstock-Gedicht selbst. Wenn der „Dichtende“ ohne „Schuld“ sein soll, müßte die Beachtung der „Beziehungen“, auf die er, als lyrisches Subjekt, zweimal hinweist, ,Licht’ in das Gedicht bringen, so daß sich das „Zürnen“ des Klägers als unbegründet erwiese. Solchen „Beziehungen“ soll nun genauer nachgegangen werden.

 

2.
Der „Dichtende“ geht davon aus, daß Beziehungen“ dabei mitwirken, Teiledes Gedichts zu vereinen“. Teile lassen sich beispielsweise dadurch vereinen, daß man sie unter einem Oberbegriff subsumiert. Ein Verfahren, solche Einheiten aufzufinden, ist die Suche nach Bedeutungsfeldern, besonders dann, wenn man die Bedeutungen - vorübergehend - aus ihrem Kontext löst und so auf Aspekte aufmerksam werden kann, die zunächst durch die eigenen Vorurteile verstellt sind. Unter den möglichen Bedeutungsgruppierungen scheinen besonders drei signifikant zu sein [7]:

Recht                                            Dichtung                                 Liebe
Der Unschuldige“                      Gedicht”                               Beziehungen”[8]
Teile(Parteien)                        Teile” (des Gedichts)            (Geschlechts-)”Teile”
„Bund“ (Verbindlichkeit)            
des Schönen Gesetz              süßer Bund inniger Liebe”
dürfen“                                       Dichtender”                          vereinen”
„mit dem Finger weisen“             Lied”                                    mit dem Finger auf
(anklagen)                                                                                     sich weisen”

Gesetz“                                                                                      „Winke geben”
„Winke geben“                                                                             Unschuld”
„im Dunkeln umhertappen
„Schuld“
.fassen“
„Unschuld“

Das Bedeutungsfeld ,Recht’ bringt zum Vorschein, warum die Situation des Gedichts als Gerichtssituation verstanden werden konnte. Darüber hinaus wird es durch die Isolierung des ,Rechts’-Aspekts leichter, den „Gähnenden“ nicht nur als ,Kläger’, sondern auch als eine Art Polizist zu sehen, der jemanden (das „Lied) identifizieren soll, dem dies aber trotz aller Winke(,Fingerzeige, ,Fahndungshinweise‘) nicht gelingt, weil er diese nicht beachtet. Es scheint so zu sein, daß der „Gähnende“ die Identifikationsmerkmale eines Gedichts im voraus kennt und weiß, was ein ,rechtes’ (richtiges) Gedicht sei, und sich nun genarrt fühlt; dagegen scheint der „Dichtende“ ihn darauf hinzuweisen, daß die Identifikationsmerkmale des „Lieds“ diesem selbst durch ,detektivische’ Mitarbeit zu entnehmen seien.
   
Antithetisch zur Dimension des ,Rechts’ enthält das Gedicht die Dimension der Liebe. Diese Gebenüberstellung erinnert daran, daß ,Recht’, vor allem als Gesetz“, auch aufgefaßt werden kann als Ausdruck eines Bewußtseins, das dem Individuellen mißtraut und es durch allgemeine Gesetze beschränkt. Bezogen auf solches Mißtrauen bedeutet Liebe“ ein Bewußtsein, das den Menschen vertraut und ihnen zutraut, sich ohne Androhung von Gewalt zu verständigen.
    Beziehbar auf die bei den Koordinaten „Gesetz“ und „Liebe
erscheint die ,Dichtung’. Obgleich deutlich ist, daß „Liebe“ hier als Gleichnis für ,richtige’ Dichtung fungiert, ist doch nicht zu übersehen, daß der „Dichtende“ sich auf ein „Gesetz“ als Autorität beruft: „des Schönen Gesetz will es so“. Die hier in Rede stehende Dichtung wird zwar deutlich abgegrenzt gegen Gesetzeszwänge, aber doch zugleich gesichert gegen die Vorstellung, die Freiheit des Individuellen sei gleichbedeutend mit willkürlicher Beliebigkeit. Dem entsprechen die beiden Imperative „Zürne“ und „Laß“, die nur gerechtfertigt sind, wenn sie sich auf ein „Gesetz“, auf etwas Allgemeinverbindliches beziehen.

    Die Dichtung des „Dichtenden“ steht also unter „des Schönen Gesetz“ und ist vergleichbar „dem süßen Bund inniger Liebe“ [9]. Kennten wir dieses Gesetz, oder wüßten wir, wann der innige Liebesbund als „süß“ bezeichnet werden darf, dann verstünden wir das Wesen der Dichtung, um die es hier geht. Gemäß unserer Voraussetzung, daß das Gedicht „Der Unschuldige“ die hier zu verhandelnde Dichtung repräsentiert, können wir annehmen, daß „des Schönen Gesetz“ in diesem Gedicht wirksam ist und die Vereinigung seiner Teile dem „süßen Bund inniger Liebe“ entspricht. Wir versuchen also zu entwickeln, wie das „Gesetz“ beschaffen sein müßte, dem dieses Gedicht gehorcht, und was unter „Liebe” zu verstehen wäre, wenn sie den „Beziehungen” dieses Gedichts entspräche.

3.
Die Bedeutungen des Begriffs „Beziehungen“ sind v
ielfältiger, als der heutige Sprachgebrauch erwarten läßt, denn nach „Grimm“ bedeutet „Beziehung“ zum Beispiel auch die „beziehung der harfe, also die Bespannung eines Saiteninstrumentes.[10]
Das Gedicht wäre demnach vorstellbar als eine Art Harfe, auf der die Wörter und Zeilen, also die Aussagen des Gedichts, die Saiten bilden. Bedenkt man, daß auch unsere Notenlinien ursprünglich Saiten einer Laute bedeuten [11], dann wird vielleicht deutlich, worauf der „Dichtende“ verweist, wenn er „Gedicht“ und „Lied“ unterscheidet: So wie gestimmte Saiten noch keine Musik sind und Noten noch kein Gesang, so sind die bloßen Aussagen des „Gedichts“ noch kein „Lied“. Wenn Saiten zum Schwingen gebracht werden, dann stellen sie nicht nur „Beziehungen“ her zwischen Tonfolgen und Tönen innerhalb von Akkorden, sondern die verwandten Töne vibrieren mit. Im übertragenen Sinn gilt dies nicht nur für die einzelnen Begriffe eines Bedeutungsfeldes, sondern etwa auch für folgenden Zusammenhang: „Liebe“ und „Schönes“ sind keine Synonyme, aber ihre Gegenbegriffe sind fast identisch: ,Haß’ und ,Häßliches’. Diese unausgesprochene, aber mitschwingende Beziehung verändert die beiden Begriffe „Liebe“ und „Schönes“, indem jeder etwas von der Bedeutung des anderen übernimmt.
    Die ,musikalische’ Dimension des „Gedichts“, die sich im „Liede“ verwirklicht, ist freilich am deutlichsten wahrnehmbar in seinem phonetischen, den Wohlklang umfassenden Bereich. Es fällt auf, daß die Verse nicht reimen. Dennoch sind die Versenden nicht ohne klangliche Beziehung: tappest“ - „fassest“, „nur“ - „Schuld“ (Assonanz); „Teile“ - „vereint(Halbassonanz; spiegelbildliche Assonanz: Teile“ - vereint“). Zwar keine Endassonanz, aber doch eine deutlich assonierende Beziehung besteht zwischen den Klangeinheiten Winke sie nur“ und zürne mit dir“, die jeweils eine vierzeilige Versgruppe abschließen. Etwas isolierter steht nur „geben“, das sich aber immerhin noch mit den unbetonten „e“ anderer Endwörter berührt.

    Einerseits handelt es sich also um eine Distanzierung vom Reim, andererseits jedoch wird durch die Assonanzen an den Reim erinnert. Gemäß unserem Untersuchungsinteresse gilt es nun zu fragen, was eine „Liebe“, für die der Reim repräsentativ wäre, von einer „Liebe“, die der Assonanz gleicht, unterscheidet. Man kann wohl sagen, daß der Reim eine Beziehung darstellt, bei der die aufeinander bezogenen Wörter viel mehr ineinander aufgehen, als dies bei assonierenden Wörtern geschieht.[12] Aber die Assonanz ist nicht nur liberaler, sondern auch nicht so exklusiv wie der Reim, weil der Umfang assonierender Wörter viel größer ist als der reimender. So gibt es auf „Liebe“ nur wenige Reime, aber verhältnismäßig viele Assonanzen, im Gedicht allein neun: Viel der- Gedichte- (süßen) - (dürfen) - Finger - will es - Winke - (Zürne) - Liede. Demnach wäre die durch Assonanz ,abgebildete’ Liebe nicht so „innig“, daß die ,Liebenden’ ihre Individualität fast verlören und Differenzen als ,Mißklang’ empfunden werden müßten. In dieser Liebe ,stimmen’ die Liebenden weniger überein, stehen in einem freieren Verhältnis zueinander als in den fast ,unisonen’ Beziehungen, für die der Reim repräsentativ wäre.
   
Aber nicht nur an den Versenden, sondern auch am Anfang und vor allem innerhalb der Verse „geben“ die Assonanzen deutlich „Winke“, indem sie auf sich aufmerksam machen und appellieren, über ihre Bedeutung nachzudenken. Ein Beispiel dafür ist [13] :

Der Unschuldige 1

In ungewöhnlicher Häufung und dadurch noch ,bedeutender’ tritt die folgende, fünffach korres- pondierende Assonanz auf:

Der Unschuldige 2

    Nicht allein durch Assonanz und Alliteration sowie ihre Stellung im Vers (jeweils das siebte Wort) sind „Liebe“ und „Liede“ aufeinander bezogen, sondern auch, weil beide Wörter sich nur durch einen Laut unterscheiden („b“ - d“). Diese Beziehung erinnert an den Reim, da für ihn diese Unterscheidung auch zutreffen könnte (vgl. „Liebe“ - ,Hiebe’), und rückt zugleich von ihm ab, indem sie, ähnlich wie die Assonanz, die enge Bindung des Reims durch eine offenere ersetzt.

    „Des Schönen Gesetz“ scheint demnach zu wollen, daß sich die „Teile“ des Gedichts nur lose verbinden, daß in seiner ,gebundenen Sprache’ die Wörter nicht gefesselt sind. Dieses Prinzip läßt sich noch an anderen „Teilen“ des Gedichts aufzeigen. Es enthält vier, jeweils durch Punkt abgeschlossene Verspaare. Im Vers ist das Versende der Ort, wo sich zwischen Syntax und Metrum ein Konflikt ergeben kann. Als ,Paare’ bilden die Verse des Gedichts eine syntaktische Einheit, hier hält sich also die Syntax an das vom Metrum vorgegebene Maß, innerhalb der Verspaare jedoch kommt es zweimal vor, daß die Syntax in Form von Enjambements die Versgrenzen überspielt:

Der Unschuldige 3 d

Die Abbildung verdeutlicht zugleich, daß die Verspaare sich spiegelbildlich (reflek- tierend) zueinander verhalten und sich zwischen ihnen eine Figur herstellt, die in der Verslehre als ,umarmend’ bezeichnet wird. Auch hier ergibt sich also, daß in diesem Gedicht freiere Verbindungen nicht als chaotische Verhältnisse erscheinen.
   
Diese Beobachtungen werden ergänzt durch den ,Strophen’-Bau des Gedichts. Es besteht aus Distichen, also aus Verspaaren, die aus zwei verschiedenen Versen gebaut sind, dem Hexameter und dem Pentameter. Bezogen auf die bisherigen Befunde läßt sich sagen, daß sich Hexameterpaare zu Distichen etwa so verhalten wie Reim und Assonanz. Denn Hexameter und Pentameter stimmen trotz ihrer Differenz in einigen Punkten überein: Der Pentameter hat überwiegend dieselben Versfüße (Daktylen und Spondeen) wie der Hexameter und besitzt zwei Hälften, die mit der ersten Hälfte des Hexameters identisch sind.[14] Das heißt, in jedem Distichon stimmen metrisch jeweils die ersten Hälften überein, während die zweiten differieren.
    Im Folgenden soll nun versucht werden, „des Schönen Gesetz“ aus der Struktur des Hexameters noch deutlicher zu entwickeln
.

4.
Der Hexameter ist ein Vers, der in besonderer Weise Gesetz und Fre
iheit (Recht und Liebe) vereinigt. Er hat sechs Versfüße, aber diese Versfüße können Daktylen oder Spondeen sein (nur: der fünfte Versfuß ist immer ein Daktylus, und der sechste Versfuß ist immer zweisilbig), so daß die Anzahl seiner Silben zwischen 13 und 17 schwankt. Dieser Vers wird unterteilt durch eine oder mehrere Zäsuren, aber sie werden - bei Klopstock viel mehr als etwa bei J. H. Voß - variabel gehandhabt. Wie ,geschmeidig’ dieser Vers ist, läßt sich erst erkennen, wenn man ihn mit dem ebenfalls sechshebigen deutschen Alexandriner vergleicht.[15]
Dieser reimende Vers alterniert, er hat zwölf oder dreizehn Silben und immer nach der sechsten Silbe eine Zäsur. Die ,Baupläne’ beider Verse haben folgende Form (wobei beim Hexameter die möglichen Zäsuren zu ergänzen wären [16] :

Der Unschuldige 4a

Um die strengere Gesetzmäßigkeit des Alexandriners in einem Vergleich zu demonstrieren, habe ich den Text eines Distichons zu einem Alexandriner umgeschrieben:

Der Unschuldige 5

Es ist demnach wohl nicht unbegründet, wenn man sagt, daß auch das Metrum des Klopstock-Gedichts eine ,Liebesform’ abbildet, die der durch Assonanz repräsentierten korrespondiert. Als wenn das Gedicht auf sein besonderes Metrum hinweisen wollte, beginnt es mit einem - in der Versliteratur seltenen - holodaktylischen Vers, der aus der höchstmöglichen Zahl von Daktylen besteht. „Daktylos“ heißt aber „Finger“. Es ist hier also vor allem der Daktylus, der als „Finger auf sich weist“ und zur Reflexion der Struktur des Hexameters auffordert.
    Insgesamt ist das Metrum des Gedichts folgenderweise beschreibbar:

Der Unschuldige 6

Das Metrum des vierten Distichons ist so offen und lose realisiert, daß Vers 7 auch auf folgende Weise notierbar wäre:

Der Unschuldige 8

Vermutlich wird es Schülern schwer fallen, Vers 4 dem Metrum entsprechend zu lesen. Die Betonung des „will“ weist jedoch nachdrücklich daraufhin, daß in der Poesie andere „Gesetzegelten als in der Prosa und sich diese dem „Schönen“ unterzuordnen habe. Diese eingeklammerte, durch Inversion das „Schöne“ voranstellende Parenthese, die als „Bund“ innerhalb der ,gebundenen’ Sprache erscheint, kann aufgefaßt werden als eine Art ,Kern’Satz, der verdeutlicht, daß das Schöne das Organisationsprinzip der Dichtung (Kunst) sei, wie sie hier - weniger formuliert, sondern - dargestellt (,abgebildet’) wird.
   
Ein Beispiel für „des Schönen Gesetz“ ist im Gedicht selbst erkennbar: Die ersten vier Verse lesen sich, nimmt man den Klammersatz heraus, wie eine Spielregel. Ziel des vom „Gedichtveranstalteten Spiels ist es, die Teile in „Liebe“ zu vereinen. Das „Gedicht“ handelt wie eine Art ,Ehevermittlerin’. Die Vereinigung ist aber nur ,richtig’ (regelrecht), wenn „die Teileaufeinander aufmerksam machen, wenn sie sich gegenseitig ,erkennen’. Auch hier wird deutlich, daß „des Schönen Gesetz“ vor allem die Aufgabe übernimmt, die Besonderheit des Individuellen gegenüber Gewaltverhältnissen zu sichern (für diese fungierte etwa die Standesehe als Modell). Die Bedeutung der im Gedicht abgebildeten Spielstruktur nimmt zu, wenn man sich erinnert, daß Schiller etwa zur selben Zeit gesagt hat: ,,[Der Mensch] ist nur da ganz Mensch, wo er spielt”[17]
    Bei dem Versuch, herauszufinden, was unter „dem süßen Bund inniger Liebe“ und unter
des Schönen Gesetz“ zu verstehen sei, hat sich ergeben, daß sich „des Schönen Gesetz“ wie „Liebe“ verhält, indem es dem Individuellen im Rahmen ,verbindlicher’ Spielregeln einen möglichst großen Spielraum zu bewahren sucht. Die Entfaltung von „des Schönen Gesetzist der „süße Bund inniger Liebe“: Das „Gesetz“ verwirklicht sich als „Bund“, als Verbindung von Freien, und das „Schöne“ realisiert sich als „Liebe“: Was dem Gesetz des Schönen gehorcht, verbindet sich in Liebe, nicht durch Gewalt.
    Das ist auch ,abgebildet’ in der Formulierung „süßen Bund inniger Liebe“, die zunächst in gewisser Weise der Struktur eines Distichon-Paares entspricht: Es handelt sich jeweils um den „Bund“ zweier Nomen, aber diese unterscheiden sich als Adjektive und Substantive. Während die parallele Anordnung auf die ,Paarigkeit’ verweist, unterstreichen die Kasus (Dativ - Genetiv) und die Genera (männlich - weiblich) die Differenz der Paare. Darüber hinaus jedoch ist die Formulierung so gewählt, daß Adjektive bzw. Substantive jeweils vertauschbar sind: ,innigen Bund süßer Liebebzw, ,süße Liebe innigen Bundes’. Dies kann ausdrücken, daß „süßer Bundund „innige Liebejeweils sowohl als Genitivus partitivus und Genitivus obiectivus des anderen verstanden werden soll. Eines geht aus dem anderen hervor und bringt das andere hervor, eines erläutert das andere. Weil der Bundein Bund inniger Liebeist, ist er „süß“, weil die „Liebeeine ,Liebe süßen Bundesist, ist sie innig. Dieses - strukturelle - Ineinssein von Bindung und Freiheit ist vielleicht abstrahierbar auf folgende ,Figur(die erst unten, durch den Schiller-Text, ganz verständlich wird):

Der Unschuldige 9 a

5.
Alle bisherigen Reflexionen dienten dazu, herauszufinden, womit der „Dichtendedas vereinigende Beziehungsgeflecht des „Gedichts“ vergleicht und auf welches Gesetz des Schönen er sich beruft. Es ist dadurch deutlich geworden, welche Qualitäten Dichtung haben muß, um nach der Auffassung des „Dichtendenzu Recht so genannt zu werden. Nun soll gezeigt werden, daß in dem - hypothetisch angenommenen - Prozeß auch die gesellschaftlichen Dimensionen der Dichtung ,verhandeltwerden, die dem Gesetz „des Schönenentspricht.
    Es ist auffällig, daß in Klopstocks Gedicht wichtige Begriffe personifiziert sind: „Gedicht“, „Teile(die „dürfen“ und „geben“), „des Schönen Gesetz“ (das will), „Auge(das „schlummert), „Lied(mit dem gezürntwerden kann und das als Unschuldbezeichnet ist). Diese Personifikationen fungieren hier nicht nur als rhetorische Schmuckmittel, sondern sie „geben [...] Winke“, daß es in diesem Gedicht möglicherweise auch darum geht, unter welchen Bedingungen der Mensch als ,Personsich entfalten kann und wonach er sich richten soll (was für ihn ,verbindlichist), wenn er sich als Person verhalten will. Die Entscheidung für eine schöne, und das heißt hier: nicht gewaltsam gebundene, Sprache wäre zugleich die Entscheidung für ein Modell, an dem eine humane, d. h. eine Gesellschaft der Liebe sich messen läßt.
    Das alles ist um so bedeutender, als die strukturbestimmenden Merkmale von Dichtung auch in Beziehung zu sehen sind zu dem Weltbild, dessen Ausdruck die jeweilige Dichtung ist. Dabei sind solche Beziehungen nicht immer eindeutig. Zum Beispiel konnte im Zeitalter des Barock der Alexandriner aufgrund seiner strengen Zweiteilung die fast unversöhnliche Spannung zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Körperlichkeit und Geistigkeit repräsentieren. In der frühen Aufklärung dagegen war der Alexandriner Ausdruck und Abbild eines Weltbildes, demzufolge alles nach strengen und klaren Gesetzen geordnet und vom Verstand rational und unzweideutig erfaßbar ist.
    Der „Gähnende“ scheint diese Position zu vertreten und davon auszugehen, der Dichter habe seine Aussagen so klar zu formulieren, daß der Rezipient sie unmittelbar, d. h. ohne individuelles Mitdenken und Interpretieren, verstehen kann. Dichtung hätte demnach die Aufgabe, objektiv richtige, gesetzmäßig gesicherte, auch philosophisch formulierbare Grundsätze zu popularisieren, die als gültige Wahrheiten von sich aus Licht verbreiten. Das ist etwa die Position der Gottschedschen Aufklärung.
   
Die in Klopstocks Gedicht thematisierte Problematik der ,Aufklärungäußert sich auch in der Lichtmetaphorik (im Dunkeln umher tappen“). Wenn der „Gähnende“ sich über die Dunkelheit(obscuritas [18] des Gedichtsbeklagt, dann enthält das - im zeitgenössischen Kontext - den Vorwurf, dieses Gedicht sei nicht im Sinne der Aufklärung verfaßt worden. Diesen Vorwurf weist der „Dichtendezurück, indem er eine andere Auffassung von Aufklärung vorführt. Gemäß dieser Auffassung äußert sich die in einem Gedicht enthaltene Wahrheit nicht unmittelbar in Form ,klarer’, ,hellerAussagen, sondern in Form eines Beziehungs- und Denkangebots, dessen Wahrheitsgehalt nur dann erscheinen kann, wenn es vom Rezipienten ,erhelltwird, wenn er ,Licht’ in die Zusammenhänge (Beziehungen“) bringt. Es wird hier die alte Vorstellung belebt, daus dem Auge Licht bervorgehen könne [19], und der Standpunkt vertreten, daß aus dem Auge des Rezipienten Licht hervorgehen müsse, wenn Aufklärung stattfinden soll. Der Vorstellung, Aufklären bedeute, daß einer klare Gedanken und Weltvorstellungen hat, die er einem anderen sagt und die dieser passiv übernimmt, wird die Vorstellung entgegengesetzt, daß Aufklärung nur dort sein könne, wo derjenige, der aufgeklärt werden soll, selber denkt. Diese Vorstellung, daß eine aufgeklärte Gesellschaft aus selbständig denkenden Individuen bestehe, entspricht dem Satz Kants: „Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“[20]

    Im Zusammenhang einer so verstandenen Aufklärung wäre die Funktion der Kunst, den Rezipienten zu bewegen, über das produktiv zu denken, was die Kunst ,andeutungsweise’ und ,beziehungsvoll’ thematisiert. Durch die lautliche und grammatikalische Identität der Antithese Dichtenderund „Gähnender“ wird vielleicht die Aufforderung hervorgerufen, der Rezipient müsse ebenfalls zu einem „Dichtendenwerden, und zwar in dessen alter Bedeutung von .Denkender [21]. Diese Möglichkeit ist in „Gähnender“ schon angelegt, da ,Gähnen’ zu Klopstocks Zeit auch ,Begierig-sein’ bedeuten kann.[22]
   
Auf solches produktives Mitwirken des Rezipienten bei der Realisierung von Kunst ist durch einige Bilder angespielt. Denkt man sich das „Gedicht“ als vom Dichter bespanntes ,Saitenspiel’, so macht daraus erst das ,Eingreifen’ (also das ,Hand’-eln) des Rezipienten Musik, wie erst die rezipierende Stimme die sinnlichen Dimensionen eines Gedichts zum Vorschein bringt und es in ein „Lied“ verwandelt. Mit schlummerndem Auge sind bei einem Ratespiel vielleicht die Körper zu begreifen (z. B. bei ,Blinde Kuh’), aber nicht die „Winke“ der Spieler. Durch seine Aktivitäten bringt der Rezipient seine Person mit seiner Welt in das Spiel des Gedichts ein. Dieses enthält - strukturell- die ,Spielregel’ („des Schönen Gesetz“), aber gemäß dieser - selbst verrätselten und erst individuell aufzufindenden - Regel bleibt dem Rezipienten ein frei verfügbarer Bewegungs- und Denkraum. Dagegen ist dem Rezipienten im umgekehrten Fall, wenn er, als Kunstrichter, an seinen von außen herangetragenen Vorurteilen das Gedicht mißt, der Zugang zum Verständnis des Gedichts verstellt. Falls der „Gähnende“ glaubt, ein eindeutiges und allgemeines ,Kunstgesetzzu kennen, verkennt er „des Schönen Gesetz, wie es in diesem Gedicht und so nur in diesem Gedicht erscheint. Wer zum Beispiel voraussetzt, zu einem Gedicht gehörten Reimbeziehungen, der findet in diesem Gedicht nur den mißglückten Reim „tappest- „fassestund übersieht, daß diese Assonanz, gerade weil sie sich dem Reim nähert, auf das in diesem Gedicht bedeutende Verhältnis von Reim und Assonanz verweist.
    Also auch hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Kunst und Rezipienten läßt sich von einem ,Bund der Liebesprechen, den die ,assonante’, offene Struktur des Gedichts repräsentiert.

 

6.
Im Folgenden soll das Beziehungsfeld des Klopstockschen Gedichts unter erweitertem Aspekt gesehen werden, um auf diese Weise zu erkennen, mit welchen zeitgenössischen und traditionel
len Erscheinungen sich das Gedicht berührt und wie es sich möglicherweise dazu verhält.
  
Bezieht man das Gedicht auf Klopstocks Gesamtwerk, so zeigt sich, daß es zu einer Reihe von Gedichten und Epigrammen gehört, die erst 1804, nach Klopstocks Tod, erschienen und mit großer Wahrscheinlichkeit in den 90er Jahren entstanden sind.[23] Trotz dieses späten Entstehungsdatums spielt es auf ein Ereignis an, das für die Geschichte der deutschen Lyrik von großer Bedeutung ist. Im Jahre 1771 hatte Klopstock zum erstenmal seine „Oden“ veröffentlicht, die das Publikum, nicht zuletzt wegen ihrer Reimlosigkeit, sehr irritierten. Diese Irritation ist zum Beispiel dokumentiert durch folgende Rezension von Matthias Claudius:

    Nein, Verse sind das nicht; Verse müssen sich reimen, das hat uns Herr Ahrens in der Schule gesagt. Er stellte mich vor sich hin, als er’s uns sagte, und zupfte mich an’n Ohren und sprach: „Hier n Ohr, und hier ‘n Ohr, das reimt sich; und Verse müssen sich auch reimen.“ Ich kann auch wohl zweihundert
    Vers’ in einer Stund lesen, und ‘s ficht mich sehr oft nicht mehr an, als wenn ich durch Wasser wate, auch spielen ein
    m die Reime wie Wellen an ‘n Hüften; hier aber kann ich nicht aus der Stell, und s ist mir, als ob sich immer Gestalten vor mir in ‘n Weg stellten, die ich ehedem im Traum gesehn habe. Zwar ists gedruckt, wie Verse, und s ist viel Klang und Wohllaut drin, aber s können doch keine Verse sein. Ich will nmal meinen Vetter fragen. -
       
    ‘s sind doch Verse, sagt mein Vetter, und fast ‘njeder Vers ist ein kühnes Roß mit freiem Nacken, das den warmgründigen Leser von fern reucht und zur Begeistrung wiehert. Ich hatte von Herr Ahrens gehört, Verse wären so ‘n brausendes Schaumwesen, das sich reimen müßte; aber Herr Ahrens, Herr Ahrens! da hat Er mir was weisgemacht. Mein Vetter sagt, ’s muß gar nicht schäumen, ’s muß klar sein, wie ‘n Tautropfen, und duchdringend, wie ‘n Seufzer der Liebe, zumal in dieser Tautropfenklarheit und in dem warmen Odem des Affekts das ganze Verdienst der heutigen Dichtkunst bestehe. Er nahm mir ‘s Buch aus der Hand und las S. 41 aus dem Stück, der Erbarmer:

      - 0 Worte des ewigen Lebens!
        So redet Jehova
      :

      Kann die Mutter vergessen ihres Säuglings,
           Daß sie sich nicht über den Sohn ihres Leibes erbarme?
      Ve
      rgäße sie sein;
          
      Ich will dein nicht vergessen!

      Preis, Anbetung, und Freudentränen und ewiger Dank,
           Für die Unsterblichkeit
      !
      Heißer inniger herzlicher Dank,
          
      Für die Unsterblichkeit!

      Halleluja in dem Heiligtume!
           Und jense
      its des Vorhangs
      In dem Allerheiligsten Halleluja!
           Denn so hat Jehova geredet!

    „Schäumt das, Vetter? und wie wird Euch dabei?“ - Wie mir wird? ’s rührt sich auch ein Halleluja in mir, aber ich darf’s nicht aussprechen, weil ich nur so ‘n gemeiner schlechter Kerl bin; ich möchte die Sterne vom Himmel reißen und sie zu ‘n Füßen des Erbarmers hinstreuen und in die Erd sinken. So wird mir! Bravo! Vetter. Das sind eben Verse, die Euch so das Sternreißen eingeben. Lest ‘s Buch ganz, ‘s wird Euch schmecken, und übrigens schämt Euch des Halleluja nicht, das sich in Euch rührt. Was gemein? bei Oden gilt kein Ansehn der Person; du oder ein König, einer wie der andre! Und, Vetter, der schönste Seraph in der feierlichen schrecklichen Pracht seiner sechs Flügel ist nur ein gemeiner schlechter Kerl, wenn er vor Gott steht! Aber, wie gesagt, lests Buch ganz.“ Hab’s getan, und will erzählen, wie’s mir gangen ist. Wenn man ‘n Stück zum erstenmal liest, kömmt man aus dem hellen Tag in eine dämmernde Kammer voll Schildereien; anfangs kann man wenig oder nichts sehen, wenn man aber drin weilt, fangen die Schildereien nach und nach an, sichtbar zu werden, und affizieren einen recht, und denn macht man die Kammer zu und beschließt sich darin, und geht auf und ab und erquickt sich an den Schildereien und den Rosenwolken und schönen Regenbogen und leichten Grazien mit sanfter Rührung im Gesicht usw. Hie und da bin ich auf Stellen gestoßen, bei denen s mir ganz schwindlicht worden ist, und ‘s ist mir gewesen, als wenn ‘n Adler nach ‘m Himmel fliegen will, und nun so hoch aufsteigt, daß man nur noch Bewegung sieht, nicht aber, ob der Adler sie mach, oder obs nurn Spiel der Luft sei. Da pfleg ich denn’s Buch hinzulegen, und mit Onkel Tobyn Pfiff zu tun. Auch über die Wortfügung in diesen Oden hab ich oft meine eigne Gedanken, und übers Metrum, und ich wollte drauf wetten, daß besondre Kniffe drin stecken, wer sie nur recht verstünde. ‘s Metrum ist nicht in allen Oden einerlei; ja nicht; in einigen ists wie ‘n Sturm, der durch n großen Wald braust, in andern sanft wie der Mond wallt, und das scheint nicht von ohngefähr so gekommen zu sein. [...][24]

 

Klopstocks Gedicht Der Unschuldigeläßt sich lesen, als ob es auf die Positionen von Herrn Ahrensund dem Vetterverweise. Für jenen gehört zum Wesen des Gedichts, daß es reimt, und auch er könnte sich darüber beschwert haben, daß das Gedicht ein dunkler Raum sei, in dem sich nichts erkennen lasse. Gemäß der Dichtungsauffassung des Vetters“ dagegen ist es sehr wohl möglich, in der „dämmernden Kammer“ die Bilder („Schildereien) zu erkennen, wenn man nämlich lange genug darin verweilt. Die Erkenntnis kommt dadurch zustande, daß sich das Auge der neuen Situation anpaßt und von den „Schildereien“ affiziert(d. h. sie „geben Winke) werden kann. Claudius spricht von der Bedeutung der „Bewegung“, der Wortfügung und des Metrums im Gedicht, d. h. er vermutet, daß das Gedicht Aussagedimensionen enthält, die über das Begrifflich-Gesagte hinausgehen. Außerdem vergleicht auch „der Vetter“ die Dichtkunst“ mit Liebe“ (wie ‘n Seufzer der Liebe).
   
So gesehen benennt der „Dichtende“ durch seine Anspielungen auf Matthias Claudius diesen als prominenten Zeugen und Gewährsmann, vor allem für seine Position, daß die (anfängliche) Dunkelheit der Aussagen durch das offene Auge des Rezipienten überwunden werden könne.

7.
Im großen Streit des 18. Jahrhunderts um Alternation, Alexandriner und Reim [25] hat Klopstock auch dadurch eindeutig Stellung bezogen, daß er diese Formen so gut wie nicht verwendete. Explizit äußert er sich dazu in der aus den 80er Jahren stammenden Ode An Johann Heinrich Voß“:

    [...]
    Die späteren Sprachen haben des Klangs noch wohl;
    Doch auch des Silbenmaßes? Statt dessen ist
       In sie ein böser Geist, mit plumpem
          Wörtergepolter, der Reim, gefahren.

    Red’ ist der Wohlklang, Rede das Silbenmaß;
    Allein des Reimes schmetternder Trommelschlag,
      
    Was der? was sagt uns sein Gewirbel,
          Lärmend und lärmend mit Gleichgetöne?
    [...]

    Dank euch noch einmal, Dichter! Die Sprache war
    Durch unsern Jambus halb in die Acht erklärt,
       Im Bann der Leidenschaften Ausdruck,
          Welcher dahin mit dem Rhythmus strömet.
    [...]
    [26]

Wenn oben der Reim in Abgrenzung zur Assonanz als eine ,Gesellschaftsform’ gesehen wurde, die das Individuelle der beiden Teile - im Bereich des Klangs - sehr beschränkt, so zeigen diese Verse, daß die ex negativo vorhandenen Anspielungen auf den Reim noch andere Dimensionen haben. Der Reim kann in diesem Zusammenhang den „süßen Bund inniger Liebe“ auch deshalb nicht repräsentieren, weil er als „plumpes Wörtergepolter“ mit „schmetterndem Trommelschlag“ und „seinem Gewirbel, /Lärmend und lärmend mit Gleichgetöne“ mit einem militärischen Aufmarsch in Verbindung gebracht ist. „Reim“ und „Jambus“ (damit ist hier vor allem der alternierende deutsche Alexandriner gemeint) erscheinen als Feinde der Sprache; der „Reim“ fährt als „böser Geist“ in sie, und der „Jambus“ erklärt sie in „Acht“ und „Bann“, indem sie gehindert wird, „Leidenschaften“ auszudrükken. Diese „Leidenschaften“ stehen für das Bestreben des Individuums, Empfindungen nicht durch empfindungswidrigen Gesetzeszwang begrenzt mitzuteilen. Das Medium, das die Mitteilung dieser Empfindungen ermöglicht, ist der „Rhythmus“ (damit ist hier vor allem der Hexameter gemeint, den - neben Klopstock - der Homer-Übersetzer Voß im Deutschen ausbildete), den der „Dichter“ hervorbringt. Auch auf diesen „Dichter“ nimmt „Der Unschuldige“ Bezug, wenn vom „Dichtenden“ die Rede ist.

8.
Bezieht man das Gedicht auf den näheren Kontext seiner Entstehung, also auf die Zeit nach dem Beginn der Französischen Revolution, dann ist es im Rahmen der poetologischen und kunsttheoretischen Reflexionen zu sehen, die damals zum Beispiel auch Schiller, Goethe, Hölderlin und die Frühromantiker beschäftigt haben.

    Bereits durch Kants „Kritikenhatte sich die Aufgabe gestellt, die gesellschaftliche Funktion der Kunst neu zu überdenken. Indem die „Kritik der reinen Vernunftdie Unmöglichkeit begründete, die Existenz Gottes zu beweisen, entzog sie der Adelsherrschaft, die sich von ,Gottes Gnadenherleitete, das theoretische Fundament; und die Kritik der praktischen Vernunftmachte mit der Formulierung des „kategorischen Imperativs, durch den es jedem möglich sein sollte, selbst zu beurteilen, ob eine Handlung gut oder böse sei, die Institution der Kirche mit ihren Moralgesetzen überflüssig. Diese Schwächung der vorhandenen gesellschaftlichen Systeme bedeutete eine Stärkung des Individuums, weil eine Unterdrückung des einzelnen durch Vorschriften, denen er selbst nicht zustimmen konnte, nicht mehr zu rechtfertigen war. Durch den Verlauf der Französischen Revolution jedoch wurde die Vorstellung erschüttert, daß unmittelbar durch politische Umstürze eine freiere und humanere Gesellschaft zu verwirklichen sei. Sollte diese Gesellschaft eine unerreichbare Utopie bleiben? Hatte das Interesse des Künstlers an der Gesellschaft keinen Sinn mehr? An der zeitgenössischen Lösung dieser Problematik hatte Kant mit seiner dritten Kritik“, der Kritik der Urteilskraft“, entscheidenden Anteil, indem er die Möglichkeit aufzeigte, daß Schönheit als Symbol der Sittlichkeit“ (§ 59) fungieren könne. Die kunsttheoretischen Bemühungen im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts beschäftigten sich großenteils damit, wie es denkbar wäre, mit Hilfe der Ästhetik die Individuen so zu bewegen, daß sie auf gewaltlose Weise die ihnen gemäße Gesellschaft bilden. Wenn es gelänge, in der Kunst die wichtigste Bedingung zur Erreichung dieses Zieles zu sehen, dann wäre der Künstler nicht nur ,gerettet’, sondern er wäre die höchste gesellschaftliche Instanz.[27]
   
Daß es um 1790 nötig wurde, Schönheit zu definieren, verdeutlicht erneut, wie wenig sich des Schönen Gesetz“ auf einen allgemeinen Konsensus beziehen konnte. Deshalb ist davon auszugehen, daß sich Klopstock mit seinem Gedicht an der zeitgenössischen Diskussion über Wesen und Funktion des Schönen beteiligte: Diese Beteiligung soll beispielhaft aufgezeigt werden anhand von Auszügen aus Schillers Kallias-Briefen. Da diese Briefe wie das Gedicht Der Unschuldige“ damals unveröffentlicht blieben, sind sie zugleich ein Dokument dafür, wie weit ähnliche Vorstellungen seinerzeit verbreitet waren und daß es sinnvoll sein kann, „Beziehungennachzugehen, von denen der konkrete Autor des Gedichts mit Sicherheit nichts gewußt hat.[28]

9.
Klopstock und Schiller waren 1792 von der französischen Nationalversammlung zu Ehrenbürgern ernannt worden, das heißt
, sie galten als geistige Wegbereiter der Revolution. Und beide waren vom Verlauf dieser Revolution enttäuscht. Die geistige Umorientierung Schillers schlägt sich nieder in den an seinen Freund Körner geschriebenen Briefen, unter denen besonders der Brief vom 23. Februar 1793 sich mit Klopstocks Gedicht berührt, weil auch er „des Schönen Gesetz“ zum Gegenstand hat:

 

    [ ... ] Schön ist ein Gefäß, wenn es, ohne seinem Begriffzu widersprechen, einem freien Spiel der Natur gleichsieht. Die Handhabe an einem Gefäß ist bloß des Gebrauchs wegen, also durch einen Be-
    griff, da; soll aber das Gefäß schön sein, so muß diese Handhabe so ungezwungen und freiwillig daraus hervorspringen, daß man ihre Bestimmung vergißt. Ginge sie aber in einem rechten Winkel ab, verengte sich der weite Bauch plötzlich zu einem engen Halse und dergleichen, so würde diese abrupte Veränderung der Richtung allen Schein von Freiwilligkeit zerstören und die Autonomie der Erscheinung würde verschwinden.
       
    Wann sagt man wohl, daß eine Person schön gekleidet sei? Wenn weder das Kleid durch den Körper, noch der Körper durch das Kleid an seiner Freiheit etwas leidet; wenn dieses aussieht, als wenn es mit dem Körper nichts zu verkehren hätte und doch aufs vollkommenste seinen Zweck erfüllt. Die Schönheit oder vielmehr der Geschmack betrachtet alle Dinge als Selbstzwecke und duldet schlechterdings nicht, daß eins dem andern als Mittel dient oder das Joch trägt. In der ästhetischen Welt ist jedes Naturwesen ein freier Bürger, der mit dem Edelsten gleiche Rechte hat, und nicht einmal um des Ganzen willen darf gezwungen werden, sondern zu allem schlechterdings konsentieren muß. In dieser ästhetischen Welt, die eine ganz andere ist als die vollkommenste platonische Republik, fodert auch der Rock, den ich auf dem Leibe trage, Respekt von mir für seine Freiheit, und er verlangt von mir, gleich einem verschämten Bedienten, daß ich niemanden merken lasse, daß er mir dient. Dafür aber verspricht er mir auch reciproce, seine Freiheit so bescheiden zu gebrauchen, daß die meinige nichts dabei leidet; und wenn beide Wort halten, so wird die ganze Welt sagen, daß ich schön angezogen sei. Spannt hingegen der Rock, so verlieren wir beide, der Rock und ich, von unsrer Freiheit. [...] An jeder großen Komposition ist es nötig, daß sich das Einzelne einschränke, um das Ganze zum Effekt kommen zu lassen. Ist diese Einschränkung des Einzelnen zugleich eine Wirkung seiner Freiheit, d. i. setzt es sich diese Grenze selbst, so ist die Komposition schön. Schönheit ist durch sich selbst gebändigte Kraft; Beschränkung aus Kraft. [...]
        Eine Versifik
    ation ist schön, wenn jeder einzelne Vers sich selbst seine Länge und Kürze, seine Bewegung und seinen Ruhepunkt gibt, jeder Reim sich aus innerer Notwendigkeit darbietet und doch wie gerufen kommt - kurz, wenn kein Wort von dem andern, kein Vers von dem andern Notiz zu nehmen, bloß seiner selbst wegen dazustehen scheint und doch alles so ausfällt, als wenn es verabredet wäre. [...]
        Warum wird die Schlangenlinie für die schönste gehalten
    ? Ich habe an dieser einfachsten aller ästhetischen Aufgaben meine Theorie besonders geprüft, und ich halte diese Probe darum für entscheidend, weil bei dieser einfachen Aufgabe keine Täuschung durch Nebenursachen stattfinden kann. Eine Schlangenlinie, kann der Baumgartenianer sagen, ist darum die schönste, weil sie sinnlich vollkommen ist. Es ist eine Linie, die ihre Richtung immer abändert (Mannigfaltigkeit) und immer wieder zu derselben Richtung zurückkehrt (Einheit). Wäre sie aber aus keinem bessern Grunde schön, so müßte es folgende Linie auch sein:

Der Unschuldige 11 a

    welche gewiß nicht schön ist. Auch hier ist Veränderung der Richtung; ein Mannigfaltiges, nämlich a, b, c, d, e, f, g, h, i; und Einheit der Richtung ist auch da, welche der Verstand hineindenkt und die durch die Linie k l vorgestellt ist. Diese Linie ist nicht schön, ob sie gleich sinnlich vollkommen ist.
        Folgende Linie aber ist eine schöne Linie, oder könnte es doch sein, wenn meine Feder besser wäre.

Der Unschuldige 12 a

    Nun ist der ganze Unterschied zwischen dieser zweiten und jener bloß der, daß jene ihre Richtung ex abrupto, diese aber unmerklich verändert; der Unterschied ihrer Wirkungen auf das ästhetische Gefühl muß also in diesem einzig bemerkbaren Unterschied ihrer Eigenschaften gegründet sein. Was ist aber eine plötzlich veränderte Richtung anders als eine gewaltsam veränderte? Die Natur liebt keinen Sprung. Sehen wir sie einen tun, so zeigt es, daß ihr Gewalt geschehen ist. Freiwillig hingegen erscheint nur diejenige Bewegung, an der man keinen bestimmten Punkt angeben kann, bei dem sie ihre Richtung abänderte. Und dies ist der Fall mit der Schlangenlinie, welche sich von der oben abgebildeten bloß durch ihre Freiheit unterscheidet.
        Ich könnte noch Beispiele genug anhäufen, um zu zeigen, daß alles, was wir schön nennen, sich dieses Prädikät bloß durch die Freiheit in seiner Technik erwerbe. Aber an den angeführten Proben mag es vorjetzt genug sein. Weil also Schönheit an keiner Materie haftet, sondern bloß in der Behandlung besteht; alles aber, was [sich] den Sinnen vorstellt, technisch oder nicht technisch, frei oder nicht frei erscheinen kann, so folgt daraus, daß sich das Gebiet des Schönen sehr weit erstrecke, weil die Vernunft bei allem, was Sinnlichkeit und Verstand ihr unmittelbar vorstellen, nach der Freiheit fragen kann und muß. Darum ist das Reich des Geschmacks ein Reich der Freiheit - die schöne Sinnenwelt das glückliche Symbol, wie die moralische sein soll, und jedes schöne Naturwesen außer mir ein glücklicher Bürger, der mir zuruft: Sei frei wie ich.
       
    Darum stört uns jede sich aufdringende Spur der despotischen Menschenhand in einer freien Naturgegend, darum jeder Tanzmeisterzwang im Gange und in den Stellungen, darum jede Künstelei in den Sitten und Manieren, darum alles Eckige im Umgang, darum jede Beleidigung der Naturfreiheit in Verfassungen, Gewohnheiten und Gesetzen. [...] [29]
     

Diese Textauszüge lassen sich so lesen, als ob sie den theoretischen Kontext formulierten, in dem sich das Gedicht bewegt. Am deutlichsten ist dies wohl in Schillers Schlußsätzen. Denn hier zeigt sich, daß Geschmack (Ästhetik) und Gewalt einander widersprechen und daß die schöne Sinnenwelt“, das Reich des Geschmacks“, das „glückliche Symbol“ sei, wie die moralische sein soll“. Schönheit ist hier entworfen als Modell der freiwilligen Begrenzung, der Versöhnung von Individuum und Gesellschaft.
   
In Klopstocks Gedicht ist es nur scheinbar so, daß das, was „des Schönen Gesetz will, durch den Vergleich wie in dem süßen Bund inniger Liebe“ nach vorgegebenen moralischen Kategorien bestimmt würde, denn in Wirklichkeit wird erst durch die ästhetische Struktur des Gedichts der Vergleich konkretisiert und nun als - auch moralischer - Maßstab dafür verwendbar, ob ein sogenannter Bund der Liebe ein ,Bund der Liebesei. Obgleich in „Der Unschuldige“ der Begriff „Freiheit“ nicht vorkommt, wird deutlich, daß dort eine ähnliche Freiheit dargestellt ist, wie Schiller sie formuliert. Zumindest widerspräche es nicht des Schönen Gesetz“, wenn  jedes aus innerer Freiheit sich gerade die Einschränkung vorschreibt, die das andere braucht, um seine Freiheit zu äußern“[30]. Eine solche selbst begrenzte Freiheit ist auch ,abgebildet’ durch die metrische Struktur der Distichen, die dem gleicht, was Schiller über die Versifikationschreibt.
    Der letzte Satz des Textauszugs ist nicht nur bemerkenswert, weil Schiller hier Bereiche zusammenfaßt, die ,normalerweisenicht als zusammengehörig gesehen werden, sondern weil er die Qualität der unterschiedlichsten Bereiche an dem einen Maßstab mißt, inwieweit sie schön behandelt sind, d. h. inwieweit in ihnen keins „dem andern als Mittel dient oder das Joch trägt“, sondern alle bewegt werden von einem freiwilligen Konsensus.

 

10.
Die hier erkennbare Auswei
tung ästhetischer Dimensionen als Muster und Maßstäbe für gutes und humanes Handeln hat auch Goethe ausgedrückt, zwar nicht wie Klopstock in Distichen, aber immerhin in der Form des Hexameters, der - wie oben gezeigt wurde - in seiner Bindung große Freiheitenerlaubt. Seine geregelte Variabilität konnte jene ,bewegliehe Ordnungausdrücken und repräsentieren, die den Kerngedanken der klassischen Natur-, Wissenschafts-, Kunst- und Gesellschaftsauffassung bildete“[31]:

    Dieser schöne Begriff von Macht und Schranken, von Willkür
    Und Gesetz. von Freiheit und Maß, von beweglicher Ordnung,
    Vorzug und Mangel erfreue dich hoch; die heilige Muse
    Bringt harmonisch ihn dir, mit sanftem Zwange belehrend.
    Keinen höhern Begriff erringt der sittliche Denker,
    Keinen der tätige Mann, der dichtende Künstler; der Herrscher,
    Der verdient, es zu sein, erfreut nur durch ihn sich der Krone.
    [32]

Auch hier ist es also die heilige Muse“, die Kunst, die jedermann auf harmonische Weise ,vorschreibt’ - sanfter Zwang“ entspricht der Formulierung des Schönen Gesetz will es so-, woran sich eine Gesellschaft orientieren kann, die dem ,höchsten Begriff’, dem Begriff der Humanität, genügt.
    Die Beziehungen des Gedichts zu Schiller und Goethe verdeutlichen, daß innerhalb der zeitgenössischen Auseinandersetzung über Wesen und Funktion der Kunst Klopstocks Gedicht die Auffassungen (Richtungen) unterstützt, für die Poesie eine besondere Kommunikationsform darstellt, die den Rezipienten nicht überzeugen, sondern mit Hilfe so offener Beziehungenwie Analogien, Bilder, rätselhafte Strukturen, Spielereien (Anspielungen) dazu bewegen will, selbst zu denken und das Prinzip des Schönen selbst zu finden. Keine Literaturform kann diesem Verständnis von Poesie so entsprechen wie die Lyrik.

11.
Die Interpretation des Klopstockschen Gedichts sollte exemplarisch zeigen
, daß man von diesem Gedicht nichts versteht, wenn man es nicht als poetische Sprache rezipiert. Vielleicht kann abschließend der folgende - notwendigerweise sehr verkürzte - Versuch, ,poetische Sprache’ von ,natürlicher Sprache’ abzugrenzen, verdeutlichen, welche Auffassung von Poesie dieser Interpretation zugrunde liegt.[33]
   
In der ,natürlichenSprache - deren Bezeichnungsproblematik hier nicht erörtert wird ist das Verhälntis von Zeichen und Bezeichnetem verhältnismäßig einfach. Der Ausdruck im Dunkeln“ ist im folgenden Satz ziemlich eindeutig verständlich: ,Als im Zimmer das Licht ausging, tappte ich im Dunkeln. Wenn dieser Satz jedoch nicht in ,natürlicherSprache erscheint, die ein möglichst eindeutiges Verständnis anstrebt, sondern als ,poetischeSprache, dann erfährt derselbe Satz eine qualitative Veränderung. Folgendes Schaubild soll den Unterschied zwischen ,natürlicher Sprache’ und ,poetischer Sprache’
erläutern:

Der Unschuldige 14 a

In dem oben angeführten Satz ist „im Dunkeln“ als ,Nicht-beleuchtet sein’ identifizierbar. Das Interesse des Rezipienten richtet sich nicht auf das - phonetische - Zeichen „im Dunkeln“, sondern auf das damit Bezeichnete, also die ,Dunkelheit’. Sobald dieser Bezug hergestellt ist, hat sich das Zeichen „im Dunkeln“ verbraucht.
    Poetische Sprache dagegen erscheint dort, wo etwas mitgeteilt werden soll, das sich in ,natürlicher’ Sprache nicht ausreichend sagen läßt. Sie setzt voraus, daß das in logisch klaren Sätzen Formulierbare einem erweiterten Erkenntnis- und Verständigungsbedürfnis nicht genügt. Als Sprache steht ihr freilich nichts anderes für ihre Zeichen zur Verfügung als die Wörter und Sätze der ,natürlichen’ Sprache und deren Bedeutungen. Sie verfährt nun so, daß sie ,Zeichen’ und ,Bezeichnetes’ der ,natürlichen’ Sprache verbindet und damit ein neues, ein ,poetischesZeichen bildet. Das Besondere dieses Zeichens ist, daß es auf kein eindeutig Bezeichenbares verweist. Zum Beispiel bezeichnet das ,natürliche’ Zeichen „im Dunkelnein täglich erfahrbares Dunkelsein. Das ,poetische’ Zeichen „im Dunkeln“ dagegen enthält als Zeichen das Dunkelsein, und es bleibt außerhalb seines Kontextes unbestimmt, was dieses Zeichen ,Dunkelsein’ bedeuten soll. In der poetischen Sprache werden aber nicht nur ,natürliche’ Bedeutungen zu Zeichen - die sich auf vielfache Weise, etwa in Form rhetorischer Figuren - kombinieren lassen, sondern alle Momente ,natürlichen’ Sprechens, auch die phonetischen und syntaktischen, können als poetische Zeichen die Bedeutung poetischer Sprache mitbestimmen.
    Das Interesse des Rezipienten dieser Sprache muß sich also notgedrungen dem poetischen Zeichen zuwenden, weil das Bezeichnete nur gefunden werden kann als eine Art Denkgebilde, das von der Struktur eines Textes, dem Beziehungsgeflecht seiner poetischen Zeichen, abgebildet, oder genauer
: vor-gebildet wird. Poetische Sprache verlangt von ihrem Rezipienten, daß er die ,natürlichen’ Bedeutungen eines Textes in ihrer Mehrdeutigkeit erarbeitet, sie als poetische Zeichen begreift und aus deren möglichen (Einzel-)Bedeutungen die auswählt, die eine in sich nicht widersprüchliche, evidente Gesamtstruktur des Textes bilden.

    Als poetisches Zeichen, aber außerhalb seiner poetischen Struktur (außerhalb des Gedichts „Der Unschuldige“) betrachtet, enthält „im Dunkeln“ mehrere Bedeutungsdimensionen. Am weitesten reicht die, daß „im Dunkeln“ den Ort, den Zustand des ,Bösen’ bedeuten kann, also das, was dem Lichte Gottes entgegengesetzt ist. Zugleich kann „im Dunkeln“ stehen für das ,finstere Mittelalter’; antithetisch zum ,Lichte des Verstandesvermag es das ,Gefühl’ zu bezeichnen, usw.
    Die prinzipielle Unendlichkeit der Bedeutungsdimensionen poetischer Sprache ist dadurch reduzierbar, daß man diejenigen Bedeutungsdimensionen ausgrenzt, die in keine Beziehung zu anderen Bedeutungen zu bringen sind; oder anders gesagt
: eine Dimension ist für die Bedeutung der Struktur einer poetischen Aussage desto gewichtiger, je mehr sie sich argumentativ auf andere Bedeutungsdimensionen beziehen läßt.
    So konnte bei der Interpretation von „Der Unschuldige“ die Dunkelheitsdimension ,das Bösenicht berücksichtigt werden; aber die Konnotation ,Aufklärung’ war ein zusätzlicher Beweis dafür, daß sich das lyrische Subjekt von der rationalistischen Kunstauffassung der frühen Aufklärung distanziert und demonstrativ auf die Dunkelheit eines „Gedichts“ verweist, das dem „Gesetz des Schönen“ entspricht.
    Zum poetischen Zeichen „im Dunkeln“ gehört zugleich dessen phonetische Dimension, die ebenfalls bedeutend sein kann. Das ,dunkle’ „u“ bezeichnet etwas von der „im Dunkeln“ vorhandenen Dunkelheit, besonders dann, wenn sich, wie in der zweiten Hälfte von Klopstocks Gedicht, auch in der Umgebung die dunklen Vokale häufen. Und die Formulierung „Du im Dunkeln“ macht auf ein „Du“ im „Dunkeln“ aufmerksam; das Wort „Dunkel“ bildet gleichsam das „Du im Dunkeln“ ab. ,Bedeutend’ ist diese Abbildung aber weniger dadurch, daß sie das „Du im Dunkeln“ wiederholt, sondern daß das „im Dunkeln“ darauf verweist, die Suche im ,Spiel-Raum’ des Gedichts gelte der Frage, wie ein „Du“ zu denken wäre, damit zwischen Ich und Du Beziehungen möglich sind, die sich als „süßer Bund inniger Liebe“ bezeichnen lassen.
    Daß „Der Unschuldige“ in einer Gerichtssituation gesprochen sein könnte
, gehört zur natürlichen Dimension des Gedichts, daß es aber zum Beispiel einen Liebes-Begriff ,darstellt’ und Aspekte der Aufklärung ,verhandelt’, läßt sich nur erkennen, wenn man die Struktur des Gedichts als poetisches Zeichen reflektiert. Lotman sagt, daß „jeder künstlerische Text [...] als einmaliges, ad hoc konstruiertes Zeichen mit besonderem Inhalt“ geschaffen wird [34]. „Auch wenn er nur ein Zeichen bildet, bleibt der Text doch gleichzeitig ein Text (d. h. eine Zeichenfolge) in irgendeiner natürlichen Sprache und bewahrt schon deshalb die Aufgliederung in Wörter, d. h. Zeichen des allgemeinsprachlichen Systems[35]. Ich versuchte mit Hilfe von Klopstocks Gedicht zu zeigen, „daß die Kunstliteratur zwar auf der natürlichen Sprache basiert, aber nur, um sie in ihre eigene - sekundäre [von mir ,poetisehe’ genannte] - Sprache zu verwandeln, in die Sprache der Kunst.”[36]

___________

(1) Dieses Gedicht ist ein Motto des folgenden Lehrbuchs, das die Methode meiner Interpretation begründet und an drei Gedichten, die ebenfalls im Unterricht behandelt werden können, ausführlich exemplifiziert: Binder, Alwin, und Heinrich Richartz: Lyrikanalyse. Anleitung und Demonstration an Gedichten von Benjamin Schmolck, Frank Wedekind und Günter Eich. Frankfurt: Scriptor 1984.
(2) Klopstock, Friedrich Gottlieb: Ausgewählte Werke. München: Hanser 1962. S. 190.
(
3) Wenn in meinen Seminaren Studienanfänger zum Beispiel zuerst auf die Klangkorrespondenz tappest“ - „fassest“ verweisen, fange ich mit dem metrischen Aspekt des Gedichts an.
(4) Zum Begriff der
Situation“, der in der Rhetorik eine bedeutende Rolle spielt, vgl.: Lausberg, Heinrich: Elemente der literarischen Rhetorik. München: Hübner 1963. (6. Auflage: 1979.)
(5) Ein ähnlicher Prozeß fand vor einigen Jahren tatsächlich statt
. Ein Theaterbesucher wollte sein Geld mit der Begründung zurück, der Regisseur habe den Text des Kleist-Dramas so sehr gekürzt, umgestellt und ergänzt, daß das Drama - im Gegensatz zur Ankündigung - kein Drama von Kleist mehr sei. (Ich erinnere mich nur an ein Rundfunkinterview mit dem Kläger - dem das veränderte Stück übrigens sehr gut gefallen hatte - und kann keine genaueren Angaben machen.)
(6) Das Gedicht könnte man auch so auffassen, als ob der Richter den Text als sein Urteil spricht
. Aber wenn man das Gedicht als Verteidigungsrede des Dichtendennimmt, ist der Prozeß noch offen und läßt die Überprüfung durch den Rezipienten zu.
(7) Wenn Seminarteilnehmer zu ganz anderen - oft sehr gut begründeten - Gruppierungen kommen, stelle ich meine Gruppierung als ganzes zur Diskussion.
(8) Das Grimmsche Wörterbuch sagt, daß die theile“ verhüllend“ „schamtheile“ bedeuten kann. (Grimm XI, 1,1. Sp. 348.)
(9) Diese Formulierung ist zugleich eine Anspielung auf die Ablösung des „Alten Bundes“, der auf Gesetze gegründet war, durch den von Jesus gestifteten „Neuen Bund“, der sich als Liebe verwirklichen sollte: „Ein neues Gebot gebe ich euch, daß ihr einander liebet.“ (Joh.13,34.) Auch in Klopstocks Gedicht scheint es um ein entsprechendes „neues Gebot“ zu gehen.
10) Grimm I
. Sp.1801. - Die Aufgabe, mit Hilfe des „Grimm“ mögliche Bedeutungen der Wörter des Gedichts zusammenzutragen, führt zu sehr diskussionsanregenden Ergebnissen.
(11) Vgl
. Kepler, Johannes: Weltharmonik. Übersetzt und eingeleitet von Max Caspar. Darmstadt 1978. S. 137. - (Im Zusammenhang mit Kepler ist „des Schönen Gesetz“ [griech,
κοσμοσ: Weltall; Schmuck, Zierde] auch eine Anspielung auf die ,,Weltharmonik“.)
(12) Um Mißverständnissen vorzubeugen, möchte ich bemerken, daß alle meine interpretierenden Aussagen aus Beziehungen des Gedichts resultieren und nur im Zusammenhang dieses Gedichts gültig sind. Zum Beispiel ist hier über allgemeine Bedeutungen des Reims nichts gesagt.
(13) Die hier durch Assonanz aufeinander bezogenen TextsteIlen sind metrisch verbunden durch die Figur des (deutschen) Adoneus (- v v - v), die dem Schluß des Hexameters und dem letzten Vers der Sapphischen Odenstrophe, die nach der ,Liebesdichterin’ Sappho so genannt ist, zugrunde liegt.
(14) Vgl. - auch zur weiteren metrischen Notation - Binder, Alwin, u. a.: Einführung in Metrik und Rhetorik. 4. Auflage. Frankfurt: Scriptor 1984.
(15) Vgl. Binder, Alwin, Manfred Schluchter und Günter Steinberg: Aspekte neuhochdeutscher Verse (Metrum und Reim). In: Literaturwissenschaft Grundkurs 1. Hrsg. von H. Brackert und J. Stückrath in Verb. mit E. Lämmert. Reinbek: Rowohlt 1981. S. 273-297. S. 279-288.
(16) Vgl. Kelletat, Alfred: Zum Problem der antiken Metren im Deutschen. In: Der Deutschunterricht 16. 1964. H. 6. S. 50-85. S. 54-58.
(17) Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. 15. Brie
f.
(18) Vgl. Lausberg. [Anm. 3.] S. 51.
(19) Vgl. Goethes, auf Plotin zurückgehende Verse: „Wär nicht das Auge sonnenhaft, / Wie könnten wir das Licht erblicken?“ (Goethe, Johann Wolfgang. Poetische Werke. Berliner Ausgabe. Bd. 1. 3. Auflage. Berlin 1976. S. 980.)
(20) Kant, Immanuel
: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Kant, u. a.: Was ist Aufklärung? Thesen und Definitionen. Stuttgart: Reclam 1981. S. 9-17. S. 9. (Hervorhebung von Kant.)
(21) Vgl
. Grimm 11. Sp. 1059 f.
(22) Nach
Grimm“ kann „gähnenauch „mit offenem munde verlangend blickenheißen. Noch bei Uz heißt es 1768 „(der) immer unvergnügt (unbefriedigt) / reich, aber hungrig stets, nach gröszerm reichthum gähnet.“ (Grimm IV, 1,1. Sp. 1150.)
(23) In der historisch-kritischen Ausgabe ist „Der Unschuldige“ mit aufgeführt unter der Überschrift: „Nicht chronologisierbare Epigramme ca. 1795-1803“. (Klopstock, Friedrich Gottlieb: Epigramme. Text und Apparat. Hrsg. von Klaus Hurlebusch. Berlin, New York: de Gruyter 1982. S. 51.)
(24) Claudius, Matthias: Sämtliche Werke. München: Winkler o. J. S. 50-52.
(25) Vg
l. Schuppenhauer, Klaus: Der Kampf um den Reim in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts. Bonn: Bolivier 1970.
(26) Klopstock. [Anm. 2.] S. 137 f.
27) So definiert sich z.B. der Dichterim Faust-Vorspiel (V. 134-157). Vgl. Binder, Alwin: Das Vorspiel auf dem Theater. Poetologische und geschichtsphilosophische Aspekte in Goethes Faust-Vorspiel. Bonn: Bouvier 1969. S. 37-62.
(28) Kloptstock hat gegen Kant noch 1797 polemisiert (vgl. [Anm. 2.] S. 1177), und sein - ebenfalls erst posthum erschienenes - Epigramm An ---“ wird als gegen Schiller gerichtetaufgefaßt, besonders gegen seine ästhetischen Anschauungen, die sich im Laufe ihrer Entwicklung dem Begriff der zweckfreien Schönheit näherten([Anm. 2.] S. 1261.). Der hier wiedergegebene Kallias-Briefzeigt einen Schiller, der sehr bemüht ist, „von dem Genie die Sittlichkeit([Anm. 2.] S. 188.) nicht zu sondern.
(29) Schiller, Friedrich: Sämtliche Werke. Bd. 5. 6. Auflage. München: Hanser 1980. S. 420-425. - Es dürfte zweckmäßig sein, im Unterricht den ungekürzten Brief heranzuziehen.
(30) [Anm. 29.] S. 422.
(31) [Anm. 15.] S. 287.
(32) [Anm. 19.] S. 547.
(33) Dabei beziehe ich mich vor allem auf: Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte. 2. Auflage. München 1981. - Schulte-Sassen, Jochen, und Renate Werner: Einführung in die Literaturwissenschaft. München 1977. (Das im folgenden wiedergegebene Schaubild ist eine Modifikation des Schemas auf S. 99 dieses Buches.)
(34) Lotman. [Anm. 33.] S. 40.
(35) Lotman
. [Anm. 33.] S. 41. (Hervorhebungen von Lotman.)
(36) Lotman
. [Anm. 32.] S. 42.

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