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                 Benjamin Schmolck

Diesen Vortrag habe ich in Münster auf Einladung des Handorf-Forums gehalten. Er kann als Ergänzung dienen zum ersten Beispiel-Gedicht in der “Lyrikanalyse”

Das Letzte das Beste

„Das Letzte, das Beste“

Über ein kunstvolles Kirchenlied von Benjamin Schmolck

(1672 --1737)

Meine Damen und Herren,

zur Interpretation des Gedichts „Das Letzte, das Beste“ bin ich auf eine ganz ungewöhnliche Weise gekommen. Mein schon 1980 verstorbener Freund Heinrich Richartz und ich hatten eine Anleitung zur Analyse von Gedichten geschrieben und wollten dann ausprobieren, ob diese Anleitung etwas taugt. Wir sagten uns, wenn diese Anleitung gut ist, dann ist sie für alle Gedichte gut. Wir suchten nach drei Gedichten, wovon eines aus der Barockzeit sein sollte. Also nahmen wir eine entsprechende Gedichtsammlung, bestimmten eine Seite, schlugen das Buch an der betreffenden Stelle auf und waren bei Schmolcks Kirchenlied. Als wir das Gedicht sahen, mussten wir lachen, denn an ein Kirchenlied hatten wir zuletzt gedacht, erlaubten uns aber nicht, es gegen ein anderes auszutauschen. Nach und nach haben wir dann bemerkt, an welche literarische Kostbarkeit wir geraten sind.
    Der Autor dieses Kirchenliedes, Benjamin Schmolck, hat von 1672 bis 1737 in Schlesien gelebt, war der Sohn eines Pastors, studierte Theologie und war wahrscheinlich von 1702 bis zu seinem Tode Pastor in Schweidnitz. Als Liederdichter ist er nicht so bekannt wie zum Beispiel Paul Gerhardt, wurde aber zu seiner Zeit doch als „zweiter Paul Gerhardt“ bezeichnet. Er hat 1180 Kirchenlieder geschrieben und ist im hiesigen evangelischen Gesangbuch noch mit 6 Liedern vertreten. Nicht dazu gehört dieses Lied, das ich jetzt vorlesen werde:

    Das Letzte, das Beste
    M. Meinen Jesum laß ich etc.

    Endlich, Endlich muß es doch
    Mit der Noth ein Ende nehmen:
    Endlich bricht das harte Joch,
    Endlich
    schwindet Angst und Grämen,
    Endlich
    muß der Kummer-Stein
    Auch in Gold verwandelt seyn.

    Endlich bricht man Rosen ab
    Endlich kommt man durch die Wüsten,
    Endlich
    muß der Wander-Stab
    Sich zum Vaterlande rüsten;
    Endlich bringt die Thränen-Saat,
    Was die Freuden-Erndte hat.

    Endlich sieht man Canaan
    Nach Egyptens Dienst-Hauß liegen;
    Endlich trifft man Thabor an,
    Wenn der Oelberg überstiegen;
    Endlich geht ein Jakob ein,
    Wo kein Esau mehr wird seyn.

    Endlich! o du schönes Wort,
    Du kanst alles Creutz versüssen;
    Wenn der Felsen ist durchbohrt,
    Läßt er endlich Balsam flüssen,
    Ey, mein Hertz, drum mercke diß:
    Endlich! endlich kommt gewiß.

    Das Lied ist an gläubige Menschen gerichtet, denen solche Aussagen und Verheißungen vertraut sind. Sie werden etwa vernehmen, dass nach dem Jammertal des Erdndaseins (ausgedrückt durch die Begriffe und Bilder Not – hartes Joch – Angst und Grämen – Kummer-Stein – Wüste – Tränensaat – Egyptens Diensthaus – Oelberg – Esau – Creutz) etwas Angenehmeres kommen wird, das sich aber nicht mehr mit so genauen Begriffen und Bildern beschreiben lässt (ein Ende nehmen -  Gold – Vaterland – Freudenernte – Canaan – Thabor – Balsam). 
    Das Interessanteste und zugleich Irritierendste an diesem Lied ist jedoch das Wort „Endlich“, das jeweils in der ersten und letzten Zeile zweimal und insgesamt 16 Mal erscheint. Bei 115 Wörtern sind das 14 %, also etwa ein Siebtel. Das ist fast zuviel des Guten. Und nicht genug, es ist auch noch durch die größeren Schriftlettern typographisch hervorgehoben.
    Zunächst ist dieses Wort nur eine Umstandsbestimmung der Zeit, die vielleicht das Ende des Lebens bezeichnet, aber dann wird in der vierten Strophe aus diesem Wort eine Art handelnde Person, die mit „o du schönes Wort“ angesprochen und dem zugetraut wird, alles Kreuz „versüssen“ zu können. Ebenso unsinnig ist – wörtlich betrachtet – die Aussage, dass ein durchbohrter Felsen „Balsam“ fließen lasse. Wenn dieses Gedicht kein leeres Gerede sein soll und nicht nur ein Angebot, in das die Singenden ohne zu denken ihre frommen Gefühle einbringen können, dann haben wir es mit einem Rätsel zu tun.
    Man kann in der Literatur des Barock immer damit rechnen, das etwas nicht unmittelbar ausgesagt, sondern zugleich verrätselt wird. Das Fremdwort für Rätsel heißt Änigma, deshalb spricht man von änigmatischen Beziehungen. Häufig werden solche Beziehungen durch Anagramme ausgedrückt.
    Ein Anagramm ist ein Wort oder ein Ausdruck, aus dessen Buchstaben sich andere Wörter bilden lassen. Zum Beispiel ist ‚Luft’ ein Anagramm von ‚Flut’, oder umgekehrt. 
    Benjamin Schmolck hat genau an die Stelle, wo das Gedicht seine Rätselhaftigkeit am deutlichsten zeigt, den Ausdruck „Läßt er“ (22) gesetzt. Aus Buchstaben dieses Ausdrucks kann man das Wort „Rätsel“ bilden:

   LÄSsT ER  >  RÄTSEL

Das ist ein verrätselter Hinweis auf die Rätselhaftigkeit des Gedichts und zugleich ein Hinweis, dass wir es mit etwas ‚Wunderbarem‘ zu tun haben. Um jedoch diese Rätselhaftigkeit aufzulösen, müssen wir uns intensiver in den Text versenken.
    In diesem Lied befindet sich ein Sprecher, ja sogar ein Ich, das sich nicht nur an das „schöne Wort“ „Endlich“ wendet, sondern sein eigenes „Herz“ belehrt: „Mein Herz, drum merke dies“. Das Ich versucht, sich selbst – oder etwas von sich selbst – zu trösten. Warum ist das Herz erfüllt von „Angst und Grämen“?
    Es scheint an die Möglichkeit zu denken, dass es „mit der Noth“ kein „Ende nehmen“ könnte. Unter christlichen Vorzeichen kann das heißen, das Leiden hat keinen Sinn, es wird niemand erlöst und gerettet, das Leben ist mit dem Tod vorbei. Oder: Die Unvollkommenheit der Welt mache deutlich, dass im Jenseits wie im Diesseits mit Gottes Hilfe nicht zu rechnen sei, weil sich entweder der Teufel durchsetze oder es weder Gott noch Teufel gebe. 
    Zuerst ist die Ausdrucksweise des tröstenden Ich beschwörend, aber mit der Häufung der Sätze, die für ein Ende der Not sprechen sollen, wird diese Ausdrucksweise sicherer. Während das Ich anfangs häufig die Formulierung „endlich muss“ verwendet, verschwindet nach und nach das Hilfszeitwort „muss“ und weicht gefestigten Aussagen. Wodurch gewinnt das Ich diese Sicherheit?
    Die ersten Zeilen sind bloße Behauptungen, die dann in den mittleren Strophen erläutert und vielleicht sogar bewiesen werden. Aber seltsam ist die Formulierung: „Endlich muss der Kummer-Stein Auch in Gold verwandelt sein.“ Wir lesen heute ein Wort wie „Kummer-Stein“ als eine bildliche Aussage, die etwa ausdrückt, dass der Kummer einen beschwert und als Last zu tragen ist. Für die Zeitgenossen Schmolcks jedoch hörte sich dieses Wort anders an. Kummer bedeutete zuerst „Schutt“, „allerhand zusammengeschüttete Stein[e]“.
    So gesehen erläutert „Stein“ nicht mehr den Kummer, sondern „Kummerstein“ hat eine eigene Bedeutung. Kummer kann auch einen Steinhaufen von einem alten Gebäude bedeuten, das heißt, das Herz scheint zu befürchten, dass sein sicher geglaubtes Gebäude, etwa sein christliches Weltbild, zusammenbricht. Und das Ich steht vor der Aufgabe, dieses Weltbild und mit ihm sein „Hertz“ so aufzurichten, dass sie in Zukunft auf sicherem Fundament stehen.
    Die zweite Bedeutung von „Kummer“ stammt aus der Rechtssprache und bedeutete dort „Arrest“, Gefängnis. Unter diesem Gesichtspunkt fühlt sich das „Hertz“ beengt, beängstigt, eingesperrt, seiner Freiheit beraubt; auf das Denken bezogen, fehlt ihm Gedankenfreiheit, und politisch gesehen, fühlt es sich vielleicht unterdrückt.
    Und erst als letzte Bedeutung steht im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm „Kummer“ im Sinne von „Sorge“ und ähnlichem. Auf alle drei Bedeutungen muss das Ich eingehen, wenn es sein Herz beruhigen, das heißt, den „Kummer-Stein in Gold“ verwandeln will.
    Dies ist auch keine Aussage, die heutzutage unmittelbar verstanden werden könnte. Sie bewegt sich im Bereich der Alchemie. Nach alchemistischen Vorstellungen liegt aller Materie eine „prima materia“, eine ‚erste Materie’ zugrunde, die sich in verschiedene Formen der Materie verwandelt und verwandeln lässt. Das erfolgt in Stufenleitern, und die höchste Stufe ist Gold, das aber in der prima materia immer schon vorhanden ist. Das Gold wird also nicht neu geschaffen, sondern es kommt durch Verwandlung zum Vorschein. Das Mittel, mit dem die Alchemisten glaubten, Materie in Gold verwandeln zu können, war der Stein der Weisen. Er sollte wirken wie eine Art Katalysator, durch dessen Anwesenheit ein alchemistischer Verwandlungs-Prozess in Gang gesetzt wird. Zu suchen ist also nach dem Stein der Weisen, der den „Kummer-Stein“ wie die Materie in der Alchemie verwandeln kann, und zwar in „Gold“.
    Das Gold ist in der biblischen Tradition nicht nur ein Gleichnis für das Reich Gottes, sondern eine Eigenschaft der heiligen Stadt; das neue Jerusalem ist nach der Offenbarung „von lauterm Golde“, das heißt, das alte, irdische Jerusalem wird sich in das himmlische verwandeln. Eine ähnliche Umwandlung von Leid in Glückseligkeit erwartet das Ich auch vom Kummer seines Herzens.
    Um dieses verzagte Herz wieder aufzurichten, zeigt ihm das Ich außerdem Situationen, in die das Volk Israel gekommen war und in denen es sich gottverlassen fühlen konnte. Das „harte Joch“ spielt an auf die babylonische Gefangenschaft, die in der Bibel als „ein eisern Joch“ (Jer 28,14) bezeichnet ist, das Gott den Israeliten auferlegt hatte. Aber der Herr Zebaoth verheißt auch, Jakob – damit ist Israel gemeint – aus der „Zeit der Not“ zu erretten: „[Ich] zerbreche […] das Joch von seinem Halse und zerreiße seine Bande, und Fremde machen ihn nicht mehr zum Knecht“. (Jer 30,7 f.)
    Weil sich das Herz wohl schwer überzeugen lässt, erinnert es sein Ich nicht nur an die babylonische Gefangenschaft, sondern stellt ihm auch die ägyptische beispielhaft vor Augen. Diese ägyptische Gefangenschaft wird schon in der Lutherbibel als ein „Diensthaus“ bezeichnet, in dem die Dienenden nicht frei sind, sondern zu ihren Arbeiten gezwungen werden.
    In diesen Bildbereich gehört auch, dass sich der „Wanderstab“ rüstet zu der dann 40 Jahre dauernden Wanderschaft durch die Wüste Sinai und dass man endlich durch diese Wüste kommt, und zwar ins „Vaterland“, ins Land „Canaan“, wo „Rosen“ gebrochen werden. Auf dieser Reise wurde zwar nicht Wasser in Wein, aber immerhin Stein in Wasser verwandelt; daran erinnert das Bild vom durchbohrten Felsen. Auch Jakob, dem Gott den Namen Israel verliehen hat (1 Mo 32,29), soll ein Garant dafür sein, dass „Angst und Grämen“ endlich schwindet.
    Diese alttestamentarischen Verwandlungen der „Thränensaat“ in „Freuden-Erndte“ werden einbezogen in eine neutestamentarische Verwandlung, dass man nämlich „Thabor“ antrifft, wenn der „Oelberg“ überstiegen.
    Sie sehen, dem „Hertzen“ wird gezeigt, dass der Weg zum Glück, zur Glückseligkeit durch zunächst unglückliche Situationen führt. Es wird ihm vor Augen gestellt, dass die Verheißungen Gottes hier auf Erden, an geographisch bestimmten Punkten, in Erfüllung gegangen sind. Darauf könnte das „Hertz“ antworten: Das ist alles lange her und hat mit mir nichts zu tun. Diesem Einwand begegnet das Ich, indem es die in der Bibel einmaligen Geschehnisse erweitert.
    Es sagt nicht, endlich sahen die Israeliten nach der ägyptischen Gefangenschaft und nach dem Zug durch die Wüste das verheißene Land Canaan, sondern endlich sieht man Canaan. An vier Stellen, wo das Ich die in der Bibel Handelnden genau bezeichnen könnte, steht das unbestimmte Fürwort „man“. Und nicht Jacob und Esau werden genannt, sondern „ein Jacob“ und „ein Esau“, wobei dieses „ein“ nicht mehr den einen Jakob meint, und „ein Esau“ nicht mehr den einen biblischen Esau.
    Noch durch ein anderes Gestaltungsmittel wird das vergangene alttestamentarische Geschehen in die Gegenwart eingebunden und in eine zukünftige Richtung erweitert. Denn obgleich die Handlungen vergangen sind, gibt es in diesem Lied keine eindeutigen Vergangenheitsformen, nur die Vorgegenwartsformen „Wenn der Oelberg überstiegen“ und „Wenn der Felsen ist durchbohrt“, ansonsten Gegenwartsformen wie ‚es muss’, ‚man sieht’, ‚man trifft’, ‚man bringt’, ‚man kommt’ usw., und nur eine Zukunftsform: „Wo kein Esau mehr wird sein“. Die Gegenwartsform könnte auch historisches Präsens sein, aber in der Verbindung mit dem Zeit-Adverb „endlich“ verwandeln sich die positiv besetzten biblischen Geschehnisse des Gedichts in Handlungen, die in die Zukunft weisen.
    Die in der Bibel zeitlich eingegrenzten Handlungen werden durch diese kleinen Veränderungen zu Gleichnissen für das ganze Heilsgeschehen. In der Theologie nennt man solche Vorausdeutungen Präfigurationen, das heißt, im Alten Testament ist das im Neuen Testament sich ereignende und versprochene Heilsgeschehen vorgebildet. Das verheißene Land Canaan ist nun das verheißene Himmelreich. Das Ich sagt demnach sinngemäß zu seinem Herzen: ‚So, wie die alten Verheißungen Gottes auf Erden erfüllt worden sind, so werden die Verheißungen des Neuen Testaments im Himmelreich in Erfüllung gehen. Dafür ist Gott der Garant.’
    Benjamin Schmolck übte mit seiner Gemeinde immer wieder Lieder ein, die nach bekannten Melodien gesungen werden konnten. Dieses Einüben war wohl leichter, wenn nur der Text zu lernen war. In einem Fall hat er 110 Texte zur selben Melodie geschrieben, und zu „Meinem Jesum lass ich nicht“ gibt es 80 Lied-Texte von ihm. Er konnte bei seinem Publikum voraussetzen, dass es die christliche und vor allem Schmolcks Bilderwelt kennt. Ich werde Ihnen aus seinem reichen dichterischen Werk einige Stellen mitteilen, die das bisher Gezeigte bestätigen und erweitern können. Es heißt bei ihm:

    Hier drückt uns das Creutze nieder,
    Noth und Kummer geht daher,
    Und kömmt täglich grösser wieder,
    Ach! Wer nur im Himmel wär.

Eine andere Stelle:

    Trag mein Hertze nur geduldig,
    Du bist Gott Gehorsam schuldig,
    und dein Creutz ist lauter Gold,
    wär es gleich wie Stein und Eisen;
    Gott wird dir zuletzte weisen,
    dass er nach dem Schlagen hold.

Dieses Beispiel bezeugt erneut, dass in der Schmolckschen Verwendung von „Gold“ alchimistische Vorstellungen wirksam sind. Selbst wenn das „Creutz“ äußerlich wie Stein und Eisen erscheint, ist es reines Gold. Dieses Gold ist im Eisen substantiell, wesentlich, enthalten und wird „zuletzte“, also „endlich“, sich als das „weisen“, was es immer war.

    Rosen ohne Dornen müssen
    In dem Himmel mich umschliessen.

    Canaan trägt lauter Rosen,
    hier ist nur ein Dornen-Feld.

Diese Stellen zeigen, dass bei den „Rosen“ in diesem Lied nicht an stechende Rosen wie beim „Heideröslein“ zu denken ist, sondern „endlich“ lautere Rosen gebrochen werden, die keine Dornen mehr haben.

    Egypten gute Nacht! Gott führt zuletzt die Seinen
    da, wo kein Dienst-Haus ist
    zur Himmels-Freyheit ein.                                             

Auch hier haben wir wieder die Aussage, dass Gott etwas „zuletzt“ tut, und sehen, dass die Bedeutung von „Kummer“ als Arrest, als Freiheitsberaubung, mit „Egyptens Dienst-Haus“ aufgegriffen wird und als Gefangenschaft im Gegensatz zur „Himmels-Freyheit“ steht.

    Ich bin ein Fremdling auf der Erden,
    der Himmel ist mein Vaterland.
    Hier trag ich noch mit viel Beschwerden
    Den Wanderstab in meiner Hand,
    doch führt mein Weg mich endlich hin,
    wo ich bei Gott daheime bin.

Nach dieser Textstelle ist das „Vaterland“ eindeutig als „Himmel“, als Heimat bei Gott Vater erkennbar, die „endlich“ erreicht wird, und das ganze irdische Leben ist ein Leben in der Fremde. Wenn das „Hertz“ darunter leidet, dann versteht man, warum es getröstet werden muss. 

    Auf Thabor ist dein Glanz wie Sonnen anzuschauen;
    So werd ich auch verklärt nach seinem Bilde stehn,
    Im Himmel ist gut seyn, da wird man Hütten bauen
    Und unsre Sonne wird gar nicht mehr untergehn.

Dies zeigt, dass im Denken Schmolcks die biblischen Bilder nicht nur für die biblischen Gestalten gelten, aber auch nicht nur Gleichnisse sind, die das Leben des Christen deuten, sondern wirkliche Prä-Figurationen, wirkliche Vor-Bilder, die der einzelne Christ auf gleiche oder ähnliche Weise erfahren und durchleben wird oder sogar muss. Das Letzte wird die Verklärung sein, die nicht ohne Grund mit der Sonne verglichen wird. Denn in der alchimistischen Stufenleiter der Planeten – zu denen die Alchimisten auch Sonne und Mond zählten - entspricht die Sonne dem Gold.  – Die letzten Verse, die ich hier zitiere, bezeugen, dass mit Jacob und Esau auch Menschen der christlichen Welt gemeint sind:

    Mein Gott, es kommet hier bey frühen Morgenstunden
    Ein Jakob, der mit dir im Glauben ringen will,
    es hat mich diese Nacht kein Esau können tödten;
    [...]
    Doch Esau lebet noch, der Feind ist noch vorhanden,
    der mein im Tage so, wie in der Nacht begehrt.

Nach diesem Exkurs in die Bilderwelt Schmolcks komme ich zurück zu unserem Gedicht. Wenn es stimmt, dass „das Letzte, das Beste“ ist, dann könnte damit auch die letzte Strophe dieses Gedichts gemeint sein, und vor allem dieser Strophe will ich mich jetzt zuwenden:

    Endlich! o du schönes Wort,
    Du kanst alles Creutz versüssen;
    Wenn der Felsen ist durchbohrt,
    Läßt er endlich Balsam flüssen,
    Ey, mein Hertz, drum mercke diß:
    Endlich! endlich kommt gewiß.

Wie schon gesagt, bezieht sich der durchbohrte Felsen auf die Bibelstelle, wo Moses während des Auszugs aus dem „Dienst-Haus“ Ägypten an einen Felsen schlägt und so aus diesem Wasser fließt. Für Menschen, die am Verdursten sind, ist Wasser lebensspendend. Der Herr hat aber seinem Volk Israel nicht nur Wasser verheißen, sondern wollte es für den Fall, dass es seinen hartnäckigen Sinn ändert, „mit Honig aus dem Fels“ (Ps 81,17) sättigen. Diese Verheißung verbindet sich mit „Balsam“, denn Balsam steht häufig „für Wohlgeruch und linderndes Heilmittel überhaupt“.
    Die versüssende oder heilende Kraft des Felsens wird vertieft, wenn man weiß, dass Paulus an die Korinther von dem „geistlichen Fels“ schreibt, welcher Christus war. (1 Kor 10,4) Nun zeigt sich, dass hier auf zwei Bildbereiche angespielt wird, die sich überdecken: den alttestamentarischen, wo Moses an den Felsen schlägt und dadurch Wasser als Lebensspender hervorquillt, und den neutestamentarischen, wo Christus ans Kreuz geschlagen und seine Seite durchbohrt wird, so dass Wasser und Blut als der Balsam fließt, durch den Jesus die Menschheit erlöst.
    Fast alle in den vorangegangenen Strophen genannten Bilder kommen in den beiden Zeilen: „Wenn der Felsen ist durchbohrt, Läßt er endlich Balsam flüssen“ zusammen. Der Felsen, als Stein, nimmt Bezug auf den KummerStein; als Ereignis beim Auszug aus Ägypten verbindet sich der Fels mit der Diensthaus-Situation; als durchbohrter Fels ähnelt er der Wüste, die mühsam durchwandert werden muss; als Symbol für den durchbohrten und durchstochenen Jesus gehört er zum Ölberg; und sein Balsam ist nicht nur mit dem Geschehen auf dem Berg Thabor verknüpft, sondern auch mit den duftenden Rosen, die bei Schmolck zugleich für die Wundmale Jesu stehen können. Der Felsen repräsentiert die Verwandlung, von der dieses Lied handelt.
    Nun stellt sich die Frage, ob das Ich seinem Herzen auch mitteilt, wie es sich die Verwandlung denken soll. Wenn man sich länger mit dem Liede beschäftigt, sieht man, dass es neben den begrifflichen Aussagen noch viele Mitteilungen enthält, die nicht inhaltlich, sondern formal, strukturell, auf dieses Verwandeln bezogen sind. Zum Beispiel enthält das Wort „verwandelt“ die Buchstaben von „Vaterland“:

    VERwANDELT > VATERLAND

„Vaterland“ ist also fast ein reines Anagramm von „verwandelt“, aber auch der Wortteil „Wander“- lässt sich aus Buchstaben von „verwandelt“ bilden. So verwandelt sich - vermittelt durch die Buchstaben des Wortes „verwandelt“ - die irdische Wanderschaft in das „Vaterland“, ohne dass sich Wesentliches, also die prima materia, verändert hätte.
    Nicht so offensichtlich, aber dennoch deutlich erkennbar, zeigt Schmolck das Verwandeln durch das Stilmittel der Assonanz. Was Reime sind, wissen Sie alle, es ist der Gleichklang zweier Wörter vom letzten betonten Vokal an, also: Wüsten – rüsten, liegen – stiegen, süssen – flüssen usw. Schon von ihrer Bestimmung her sind Reime so etwas Ähnliches wie Anagramme, aber in einer Zeit, in der alle Gedichte reimen, doch wieder nichts Besonderes.
    Anders steht es mit der sogenannten Assonanz, die kein Gleichklang, sondern nur ein Anklang ist, weil vom letzten betonten Vokal an nur die Vokale gleich klingen. Das gilt – wie beim Reim – auch für einsilbige Wörter. So assonieren zum Beispiel „Joch“ und „Noth“, dazu gesellt sich „Wort“ und alle drei zusammen assonieren mit „Gold“. Wenn man bedenkt, dass im biblischen Zusammenhang „Wort“ – für sich allein genommen – das Evangelium, und innerhalb des Evangeliums am Anfang bei Johannes als Logos Jesus selbst heißen kann, dann sind hier durch die Assonanz auf sehr bedeutende Weise Begriffe aufeinander bezogen, die am Verwandlungsvorgang des Gedichtes beteiligt sind. Auf die Bedeutung der Assonanz weist schon die Überschrift hin durch die Assonanz von „Letzte“ und „Beste“.
    Es gibt in diesem Liede noch viele andere lautliche Beziehungen, sogenannte Klangkorrespondenzen, ich will nur noch auf zwei hinweisen. Das ganze Lied ist auffallend durchzogen von der Lautkombination „nd“, die aus dem Wort „verwandelt“ stammt: Wir finden sie 16 Mal in „Endlich“, in Ende,  schwindet, Wander, -lande, Erndte und in den Wortgruppen „man durch“ und „Wenn der“. Diese netzartig mit „verwandelt“ verbundenen Anklänge sind alle mit positiven Vorzeichen versehen und erinnern daran, dass in dem Gedicht überall Verwandlungen stattfinden. Man könnte den Eindruck haben, dass Schmolck mit diesen Klangkorrespondenzen versucht, zu verdeutlichen, was das Ich mit „in Gold verwandeln“ meint.
    Das zeigt sich vielleicht am genauesten in den Zeilen: „Wenn der Felsen ist durchbohrt, Läßt er endlich Balsam flüssen“. In der Lautlehre werden die Laute l und r – schon in der Grammatik des Alterums – „Liquidae“ genannt, das heißt „Fließlaute“. Und diese Fließlaute sind in den beiden Zeilen neunmal zu finden. Das ist eine ganz ungewöhnliche Häufung und passt dazu, dass in diesen Zeilen von Fließen die Rede ist, weil der feste und harte Fels beginnt, sich zu verwandeln.
    Diese vielen Klangkorrespondenzen scheinen vor allem eines abzubilden, dass nämlich Verwandeln nicht bedeutet, alles aufzulösen. Alle Verwandlung ist in diesem Text zugleich Bewahrung, das Gold ist schon da. Man sieht dies auch daran, wie „Balsam“ und „flüssen“ auf „Felsen“ bezogen sind. In „fluessen“ ist der Felsen bewahrt, er ist als eine Art Anagramm im „flüssen“ noch vorhanden, und das Lautpaar „ls“ in Balsam war schon im „Felsen“, aus dem der Balsam fließt.

    FLuESsEN > FELSEN      feLSen > baLSam

Es sind in dieses Gedicht noch andere Bereiche eingewoben, die das Verwandeln erläutern. Zum Beispiel die Beziehung zwischen Saat und Ernte. Das ins Erdreich gesäte Samenkorn stirbt nur scheinbar ab, denn es bringt neue Frucht hervor, in der das Leben des alten Kornes weiterlebt; der alte, gesunde Zustand des Samens wird nicht nur bewahrt, sondern vervielfältigt und dadurch reicher.
    Durch die Art, wie sie von Menschen gebraucht werden, sind auch „Joch“, „Wander-Stab“ und „Creutz“ mit einander verbunden. Alle drei werden getragen. Der Wanderstab jedoch wird anders getragen als Joch und Creutz. Er erleichtert die Bewegung durch Raum und Zeit.
    Daneben ist der „Wander-Stab“ eine Hilfe beim Tragen, wie auch das „Joch“ eine Hilfe zum Beispiel beim Wassertragen sein kann und dadurch die Last erleichtert. Unter solchem Gesichtspunkt verwandelt sich möglicherweise das „harte Joch“ in der Bewegung auf Erden in das Joch Jesu, der gesagt hatte: „Mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht“ (Mt 11,30). Und das Creutz, als das Joch, das Jesus getragen hat, ist dann weniger als eine Last als vielmehr als eine Stütze zu sehen, die beim Tragen des „Kummer-Steins“ hilft.
    Vielleicht möchten Sie nun endlich erfahren, was es mit dem ominösen „Endlich“ auf sich hat. Was ist an ihm so „schön“? Wie Sie schon wissen, verwandelt es sich im Verlaufe des Liedes vom Adverb, einer Umstandsbestimmung der Zeit, in ein Hauptwort, in ein Substantiv, das als „schönes Wort“ bezeichnet ist und von dem das sprechende Ich weiß, dass es „alles Creutz versüssen“ kann. Alle mit „Endlich“ eingeleiteten Aussagen des Gedichts färben auf das „Endlich“ ab und geben ihm etwas von ihrer Bedeutung. Ich könnte auch sagen, im Verlaufe des Gedichts wird das „Endlich“ mehr und mehr mit Bedeutung aufgeladen, semantisiert, so dass man fast meinen könnte, ohne Endlich fänden die Verwandlungen gar nicht statt. In diesem Sinne wird „Endlich“ immer besser, und während es am Anfang nur „das Letzte“ in einer Reihe bezeichnet, ist es am Ende „das Beste“, die beste Verheißung, die es für das „Hertz“ und zugleich für die Menschheit geben kann.
    Das so hochstilisierte „schöne Wort“ "Endlich“ vermag die Eigenschaften des Wortes Gottes, des Evangeliums, zu übernehmen. In zwei anderen Liedern Schmolcks wird das erzänzend formuliert:

    Laß diß Evangelium
    mir zu einem Balsam werden,
    der in meine Wunden fließe
    und mir alles Creutz versüsse.

    JEsu! Laß mein Herz allein
    dein Gefäß im Glauben seyn,
    und der Balsam deiner Wunden
    werde nur darinn gefunden.

Ohne dass dies deutlich ausgesprochen wäre, wird in der vierten Strophe das „Endlich“ nicht nur zum Evangelium, sondern zu Jesus selbst, der als Fels im alchimistischen Sinne der Stein der Weisen ist, der den Kummer-Stein und alles, was sich damit verbindet, in Gold verwandeln kann. Gold bildet nicht nur eine Assonanz mit Noth und mit Joch, sondern auch mit Gott. Durch „Endlich“ als das Wort Gottes kann sich das irdische Jerusalem, überhaupt die Erde, in das Reich Gottes verwandeln.  Wenn man für die lautlichen Feinheiten sensibilisiert ist, die Schmolck in sein Lied eingeflochten hat, dann sieht man in der Schlussaussage „enDLich kOmmt Gewiss“ die Buchstaben, aus denen sich Gold bilden lässt.
    Es entwickelt sich gegen die gewöhnliche Schreib- und damit Laufrichtung der Welt. Das verweist in diesem Fundamentalsatz des Gedichts auf die allem zugrunde liegende prima materia, die nicht verändert, sondern nur verwandelt wird.
    Die Noth wird nicht vernichtet, sondern soll entsprechend dem Kreuz Jesu eine neue Qualität erhalten, die es ermöglicht, sie als Voraussetzung oder gar als Teil von Glückseligkeit zu empfinden und zu begreifen. Das Leiden Christi ist demnach nicht das Mittel zur Erlösung, sondern die Erlösung selbst, nur in etwas anderer Gestalt. Das Himmelreich ist schon auf Erden, es ist in dieser Welt schon enthalten.
    Nicht alchimistisch, sondern chemisch gesprochen, betrifft die Verwandlung weniger die Substanz, als vielmehr die Akzidenzien, so wie man das reine Wasser nicht sehen kann, sondern nur seine flüssige, gasförmige oder gefrorene Erscheinung. Das ist schön abgebildet in der Verwandlung von „das Letzte“ in „das Beste“. Bis auf die Anfangslaute bleiben bei dieser Verwandlung von Quantität in Qualität die Laute – nicht die Buchstaben - erhalten.
    Nach dem, was ich Ihnen gezeigt habe, ist es wohl verständlich, dass das Ich am Ende seiner Trostworte einen logischen Schluss zieht und sagt: „drum, merke diß“. An der von ihm entwickelten und bewiesenen Heilsgewissheit, die das „gewiß“ am Ende des Gedichts unterstreicht, gibt es nichts zu zweifeln. Es ist denkbar, dass das Ich seinem „Hertzen“ auch auf den Einwand geantwortet hat, die Verkündigung des Heils beruhe nur auf Glauben und nicht auf dem Verstand.
    Wenn dieses Lied in Schmolcks Gemeinde gesungen wurde, dann trat an die Stelle des Herzens die Gemeinde und an die Stelle des Ichs der Pastor. Schmolck schreibt einmal: „Ich bin vergnügt, wann ich andern mit dem dienen kan, was ich manchmal zu meinem eigenen Troste auffgesetzet.“ Dass die Gemeinde im schlesischen Fürstentum Schweidnitz um 1700, als das Lied entstanden ist, des Trostes bedürftig war, ergibt sich aus der politischen Lage.
    Im Westfälischen Frieden wurde beschlossen, den dortigen Protestanten nur zu erlauben, eine einzige Kirche, und zwar vor den Mauern der Stadt, zu errichten, obgleich die Stadt Schweidnitz im Jahre 1636 nur 16 ansässige römische Katholiken zählte. Die zahlreichen evangelischen Kirchen wurden enteignet und mit römischen Geistlichen besetzt, auch da, wo kein Katholik ansässig war. Die Kirche von Schweidnitz, die für die gesamte evangelische Einwohnerschaft des Fürstenthums Schweidnitz dienen sollte, durfte nicht mehr als drei Geistliche anstellen.
    Die Gemeindemitglieder mussten lange und beschwerliche Reisen machen, manche eine Wallfahrt von mehreren Tagen, ehe sie ein evangelisches Gotteshaus erreichten. Da man auf dem Kirchwege sang (Schmolck hat dafür später spezielle Lieder gedichtet und in seiner Sammlung mit dem Titel „Wanderstab“ veröffentlicht), ist es möglich, dass auch „Das Letzte, das Beste“ für diese Diaspora-Situation konzipiert wurde.
    Jedenfalls war die Situation der Wanderschaft für Schmolcks Gemeinde nichts Abstraktes, und auch bei einem Begriff wie „Kummer-Stein“ hatten sie mehr zu denken und zu fühlen als jemand, der sich in gesicherten religiösen Verhältnissen bewegt. Für das einzelne, von weit her kommende Gemeindemitglied konnte die Kirche in Schweidnitz gefühlsmäßig eine Art Präfiguration der himmlischen Seligkeit sein.
    Vergleicht man „Das Letzte, das Beste“ mit Liedern von Paul Gerhardt, dann sieht man, dass Schmolck als Theologe orthodox war, das heißt, für ihn ließ sich die Heilsgewissheit nur aus der Bibel begründen, obgleich schon vor seiner Geburt der Theologe Olearius (1599-1671) geschrieben hatte: „Daß unser Gott ein großer Gott ist, erlernen wir unter Anderem auß dem Buche der Natur, der vernünfftigen Heyden Bibel.“ Dementsprechend hat Paul Gerhardt (1607-1676), der ein Lebensalter vor Schmolck lebte, sein „Herz“ auf andere Weise getröstet:

    Geh aus mein Herz und suche Freud
    In dieser lieben Sommerzeit
    An deines Gottes Gaben.
    [...]
    Ach, denk ich, bist du hier so schön
    Und lässt du uns so lieblich gehn
    Auf dieser armen Erden,
    Was will doch wohl nach dieser Welt
    Dort in dem reichen Himmelszelt
    Und güldnem Schlosse werden!
    [...]
    Doch gleichwohl will ich, weil ich noch
    Hier trage dieses Leibes Joch
    Auch nicht gar stille schweigen;
    Mein Herze soll sich fort und fort
    An diesem und an allem Ort
    Zu deinem Lobe neigen.

Hier werden auch Begriffe wie Himmel, gülden und Joch genannt, aber es wird das traurige Herz nicht durch eine Anhäufung theologischer Beweise getröstet, dass nach den Tränen die Freudenernte sei, sondern es wird verwiesen nicht auf die Schönheit des Wortes, sondern auf die Schönheit der Natur; diese Art Trost kann auch verstehen, wer nicht die Bibel in Einzelheiten kennt. Wo Schmolck sagt:

    Endlich sieht man Canaan
    Nach Egyptens Diensthaus liegen,  

sagt Gerhardt:

    Wann der Winter ausgeschneiet,
    Tritt der schöne Sommer ein:
    Also wird auch nach der Pein,
    Wers erwarten kann, erfreuet.

Als im 18. Jahrhundert unter den Gläubigen eine pietistische Richtung populär wurde, die dem persönlichen Empfinden mehr Raum ließ, kamen Schmolcks Lieder nach und nach aus der Mode, obgleich sie zu seiner Zeit vergleichsweise hohe Auflagen erzielt hatten. Auf die Kirchenlied- und Literaturgeschichte hat Schmolck also keinen großen Einfluss ausgeübt. Indirekt aber vielleicht doch.
   Der für die Geschichte der Literatur bedeutende Dichter Johann Christian Günther (1695-1723) ging in Schweidnitz zur Schule und besang zum Beispiel Schmolcks Amtseinführung als Schulinspektor. Als Zwanzigjähriger schrieb er 1715 einige Gedichte, in denen er Schmolck verehrte. Als eine Art Verehrung kann ein Gedicht gesehen werden, das sich ganz im Gedankenfeld von Schmolcks Kirchenlied bewegt und dieses nur um einige Bilder erweitert. Es heißt „Trostaria“ und beginnt:

    Endlich bleibt nicht ewig aus,
    Endlich wird der Trost erscheinen,
    Endlich grünt der Hofnungsstrauß,
    Endlich hört man auf zu weinen,
    Endlich bricht der Thränenkrug,
    Endlich spricht der Tod: Genug.

In diesem Gedicht erscheint „Endlich“ nicht nur 16 Mal, sondern 26 Mal. Die vierte Strophe heißt:

    Endlich nimmt der Lebenslauf
    Unsers Elend auch ein Ende,
    Endlich steht ein Heiland auf,
    Der das Joch der Freundschaft wende,
    Endlich machen vierzig Jahr
    Die Verheißung zeitig wahr.

Und das Gedicht endet mit den Versen:

    Endlich sieht man Freudenthal,
    Endlich, endlich kommt einmahl.

Es tut mir heute noch leid, dass mein Freund nicht mehr gesehen hat, was mir dann später an diesem Gedicht aufgefallen ist. Goethe sagt einmal: „Was ist das Schwerste von allem? Was dich das leichteste dünket, Mit den Augen zu sehn, was vor den Augen dir liegt.“ Und vor meinen – wie den Jüngern von Emaus lange gebundenen – Augen lag die Zeile „Endlich steht ein Heiland auf“, und endlich sah ich, dass das Wort „Endlich“ eine fast vollkommene Verwandlung von „Heiland“ ist, ebenso wie das Wort „einmahl“, das Günther an den Schluss seiner Trostaria gesetzt und dabei „–mahl“ – wie damals üblich -  mit H geschrieben hat.

    ENDLIcH > HEILaND        EINmAHL > HEILANd

Man sieht hier ganz deutlich, dass diese änigmatischen Beziehungen kein Zufall sind, sondern von Schmolck wie auch von Günther gezielt eingesetzt wurden.
    Während in Johann Christian Günthers Gedicht der Satz „Endlich steht ein Heiland auf“ wörtlich auf den Heiland verweist, bleibt er in Schmolcks Gedicht ungenannt. Aber es wird auf ihn, wie wir gesehen haben,  angespielt mit Oelberg, Wort, Creutz, Felsen, durchbohrt, Balsam flüssen; auch „Vaterland“ mit seinen Klangkorrespondenzen verweist nun auf Heiland.
    Wenn aber das in „Endlich“ fast vollständig verborgene Wort Heiland durch änigmatisches Verwandeln als eine Art Anagramm zum Vorschein kommt, dann wird verständlich, dass „Endlich“

  • Quantitativ und typographisch ausgezeichnet ist,
  • Personifiziert ist,
  • Mit „o du schönes Wort“ angesprochen ist
  • Die Kraft zugesprochen ist, alles Creutz zu versüssen
  • Als handelndes Substantiv erscheint,
  • Gewiß kommt.

An aller im Gedicht aufgeführten Heilsgeschichte war demnach immer der ‚Heiland’ beteiligt, er hat sich schon vor seiner Menschwerdung ins Zeitliche begeben; vielleicht soll das Gedicht auch zeigen, dass Jesus als Heiland die Zeit, die Endlichkeit ist, die kein Ende hat, sondern sich in unendliche Ewigkeit verwandelt. Dies alles ist zusammengefasst in der Anspielung auf den Berg Thabor: Jesus betrat ihn mit drei Jüngern in endlicher Gestalt, dann verwandelte er sich durch die Verklärung in eine unendliche, zum Himmelreich gehörende Dimension, und kehrte dann wieder in seine endliche Gestalt zurück.
    Falls Sie noch daran zweifeln, ob Schmolck den Zusammenhang von „Endlich“ und ‚Heiland’ selber bemerkt hat, kann Sie vielleicht Folgendes überzeugen. Schmolck rechtfertigte, dass er eine Liedersammlung „Schöne Kleider für den betrübten Geist [...]“ genannt hatte, mit der Bemerkung: „dass Kleider und Lieder eigentlich nur durch einen eintzigen Buchstaben unterschieden sind“. Auch „Heiland“ und „Endlich“ sind – wie „einmahl“ und „Heiland“ – nur durch einen einzigen Buchstaben unterschieden. Dass das Anagramm nicht aufgeht, könnte daran erinnern, dass Esau, den Schmolck – wie wir gehört haben - in einem Lied mit dem Teufel gleichsetzt, immer noch in Schmolcks Weltbild wirkt und die vollkommene Verwandlung in Gold noch hemmt. 
    Ich hoffe, Ihnen keine Predigt gehalten, sondern gezeigt zu haben, wie kunstvoll dieses Kirchenlied gestaltet ist und was dieser Pfarrer seiner Gemeinde an Verständnis zugemutet hat oder zumuten konnte. Für Schmolck freilich sollte das erkennende Versenken in einen Text kein Kunstgenuss, sondern ein religiöser, ein seelischer Genuss sein. In der Vorrede zur achten Auflage seiner Liedersammlung „Heilige Flammen der himmlisch-gesinnten Seele“, in der auch „Das Letzte, das Beste“ erschienen ist, schreibt Schmolck: „Es bleibet doch ein Vorschmack des Himmels, wenn wir uns in andächtigen Liedern üben. Ich wünsche dir bei dieser achten Überreichung einen rechten Himmel in dein Hertz.“

 

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