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        zu "Das fliegende Klassenzimmer"

Alwin Binder

Sprachlose Freiheit?

Zum Kommunikationsverhalten in Erich Kästners Das fliegende Klassenzimmer“*

        • Ihr liebt das Leben erst, wenn ihr marschiert, weil dann gesungen
           wi
          rd und nicht gesprochen.“ (Erich Kästner: Marschliedchen, V. 7 f.)

In seiner Rede „Kästner über Kästner“ stellt Kästner die Frage, was man „mit jemandem anfangen [soll], der neben satirischen Gedichtbänden, worin die Konventionen der Menschheit entheiligt und ,zersetzt’ werden [...] Kinderbücher geschrieben hat, denen die - Erzieher Anerkennung und die Erzogenen Begeisterung entgegenbringen?1 Seine Antwort heißt: „Er ist ein Moralist. Er ist ein Rationalist. Er ist ein Urenkel der deutschen Aufklärung [...], untertan und zugetan den drei unveräußerlichen Forderungen: nach der Aufrichtigkeit des Empfindens, nach der Klarheit des Denkens und nach der Einfachheit in Wort und Satz.2 Dabei geht Kästner davon aus, „Kinder [...] seien dem Guten noch nahe wie Stubennachbarn. Man müsse sie nur lehren, die Tür behutsam aufzuklinken ...“.3
   
Nimmt man dies ernst, so verfolgt Kästner mit seiner Kinderliteratur das Ziel, Kinder dadurch gut zu machen, daß er sie zu aufgeklärten Menschen und damit auch zu ,Untertanen‘ der drei oben zitierten Tugenden erzieht. Sie genügen dann der aufklärerischen Forderung nach Mündigkeit, wenn sie fähig sind, das aufrichtig Empfundene und klar Gedachte einfach auszusprechen.
   
Es soll hier nicht die Redlichkeit des Aufklärers Kästner bezweifelt werden. Gleichwohl vermitteln in seinen Kinderbüchern von ihm als vorbildlich dargestellte Personen Maximen und Verhaltensmuster, die seinen aufklärerischen Intentionen widersprechen. Denn Kästner beschreibt die Welt ,aufrichtiger‘, als er sie selbst erkennt, so daß sich an seinen Kinderbüchern besonders gut aufzeigen läßt, wie die impliziten Intentionen eines Romans gegen die expliziten seines konkreten Autors gerichtet sein können.
    Dies
soll an dem Roman „Das fliegende Klassenzimmeru. a. durch den Nachweis demonstriert werden, daß dieses Buch seinen kindlichen Lesern die
Unmöglichkeit4 vorführt, in der im Roman dargestellten Welt die Tür zu einem Stubennachbarn „behutsam aufzuklinken“, mit ihm aufrichtig zu sprechen. Die Vorstellung vom „Gutenals einem „Stubennachbarnerweist sich als Trugschluß.

1.

Der Intention des Erzählers entsprechend sollen die Leser des „Fliegenden Klassenzimmers“ lernen, daß das Leben nicht nur schöne Seiten hat, sondern mit einer „verteufelt großen Handschuhnummer“ „groggy“ schlagen kann, vor allem die, die nicht „hart im Nehmen“ sind und nicht gelernt haben „Schläge einzustecken und zu verdauen“ (16).5 „Also: Ohren steif halten! Hornhaut kriegen! Verstanden? Wer das erste heraus hat, der hat schon halb gewonnen.“ (16)
    Es ist nicht auszuschließen, daß jemand, der solche Verhaltensmaximen zur Lebenstüchtigkeit, wie sie der Roman vorführt, nicht übernimmt, den Kampf verliert und „längelang auf der Nase“ liegt (16). Daher kann man annehmen, daß viele Leser gern die im Roman enthaltenen Identifikationsangebote akzeptieren und nachahmen. Um so mehr ist zu fragen, welche Prämissen der hier vorausgesetzte Lebensbegriff enthält und welchen Preis der einzelne für solche Tüchtigkeit zu bezahlen hat, aber auch, ob und wie der Leser über das „Leben“ informiert wird und wie er das aufklärerische Moment der Mündigkeit erfährt. Dieser letztgenannte Aspekt soll im folgenden anhand der im Roman dargestellten Konflikte und ihrer jeweiligen Bewältigung untersucht werden. Dabei kann sich zeigen, wie kommuniziert wird und ob Sprache als Möglichkeit erscheint, sich durch Miteinander-Sprechen und Aufeinander-Hören gewaltfrei zu verständigen bzw. vermittels Sprache rational gegen die Inhumanität der Welt zu protestieren.

 

2.

Einen großen Raum nimmt der Konflikt zwischen Gymnasial- und Realschülern ein: Die Realschüler haben dem Professorensohn Rudi Kreuzkamm die Diktathefte der Tertia abgenommen und ihn selbst festgehalten. Der „Dichter“ (43) Johnny erkennt die Geschichte dieses Konflikts als vorgegebene Situation, mit der die Beteiligten unmittelbar nichts zu tun haben. Da sie nur ausführen, „was ihnen die Chronik der Pennen vorschreibt“ (43), sind sowohl Konflikt wie Konfliktgegenstand vorwiegend abstrakter Art. Nur weil die Schüler der ,Vorschrift’ der „Pennen“ gehorchen und sich selbst sowie die den Realschülern abgenommene „Fahne“ (43) unbefragt als Repräsentanten bzw. als Symbol höherer Institutionen verstehen, ist der Konflikt in der Welt.
    Die Bedeutung dieses Konflikts wird verstärkt durch die Bemerkung, es handle sich um einen „Streit zwischen den Schulen, nicht zwischen den Schülern“ (43), die die Analogie nahelegt zu Streit zwischen Staaten, wo auch Menschen miteinander kämpfen, ohne etwas Konkretes gegeneinander zu haben. Diese Analogie unterstützt der „Nichtraucher“, indem er - anders als Matthias, der von einer „feierlichen Keilerei“ (39) gesprochen hatte - auf die Auseinandersetzung zwischen den Schülern - nur scheinbar ironisch
- die Dimensionen „Krieg“ und „Schlachtfeld“ projiziert. Deshalb ist es von Bedeutung, nach welchem Muster ein solch „prähistorischer Krieg“ (43) verläuft.6
   Während Matthias den Anführer der „Realisten“, Egerland, kurzerhand „in Atome zertrümmern“ (47) will,
befiehlt ihm Martin:

    „Hier bleibst du! [...] Mit Prügeln allein ist uns nicht geholfen. Und wenn du dem Egerland den Kopf abreißt, wissen wir immer noch nicht, wo der Kreuzkamm mit den Heften steckt. Wart’s nur ab. Wir werden Dich schon noch brauchen.“ (47)

Übereinstimmend mit der Aufforderung des Nichtrauchers, in den „Krieg“ und aufs „Schlachtfeld“ zu ziehen, geht Martin als Anführer der Gymnasiasten also von vornherein davon aus, daß der Konflikt ohne Gewalt nicht zu lösen sein wird. Und demgemäß sieht auch Sebastian Frank, der „die Sache auf dem Verhandlungswege“ (47) zum Erfolg führen will, das Ziel seiner Mission als „Parlamentär“ nicht darin, unter allen Umständen Krieg zu verhindern, sondern ist zufrieden, wenn er wenigstens ausfindig macht, „wo der [gefangene] Rudi steckt“ (47). So zeigt er sich gegenüber dem Anführer der Realisten ohne Gesprächs- und Konzessionsbereitschaft, obgleich ihm die Forderung der Realschüler, wegen der zerrissenen Fahne einen Entschuldigungsbrief zu schreiben und schriftlich um Herausgabe des Gefangenen und der Hefte zu bitten, nicht unangemessen erscheinen dürfte, hatte doch der ob seines Gerechtigkeitssinns hochgeschätzte und deshalb „Justus“ genannte Hauslehrer wegen der den Realschülern abgejagten Fahne bereits „einen haushohen Krach“ (43) gemacht. Sebastian verläßt seine starre Haltung auch dann nicht, als er erfährt, daß sein Klassenfreund Kreuzkamm „Ohrfeigen kriegt [...]. Alle zehn Minuten sechs Stück“ (51).
    Es wäre nicht undenkbar, wenn hier die Erzählung retardierte und das Problem ins Blickfeld rückte, ob auch nur eine einzige Ohrfeige, die ein Mensch erhält, dadurch zu rechtfertigen sei, daß aufgrund irgendwelcher abstrakter Ehrbegriffe sich ein anderer weigert, einen Entschuldigungsbrief zu schreiben. Als die Gymnasiasten die Gegner „in die Pfanne“ hauen!, „rin ins Vergnügen!“ und „sofort losschlagen“ (52) wollen, steht zwar plötzlich wie ein Deus ex machina der Nichtraucher hinter ihnen und sagt: „Das geht natürlich nicht, was ihr da vorhabt“ (53). Er begründet dies jedoch vor allem damit, daß „Egerland [...] bereits dreißig Jungen beisammen [hat]“ (53), also der Sieg der „zwanzig“ (51) Gymnasiasten nicht sicher wäre, und bietet den Schülern nicht Verhandeln und damit Sprache als Konfliktlösungsmittel an, sondern das seit David und Goliath überlieferte Konfliktlösungsmodell des Zweikampfs: So kann auch die zahlenmäßig unterlegene Gruppe gewinnen, wenn sie nur einen Starken hat.

   
Es ist bemerkenswert, unter welch genüßlicher Perspektive der Zweikampf dem Leser geschildert wird:

    „Wawerka taumelte, drehte sich betrunken im Kreise und kriegte die Arme nicht mehr hoch. Er war völlig benommen.
    ,Los Matz!‘ schrie Sebastian hinüber
. ,Mach ihn fertig!‘,Nein’, rief Matthias. ,Er soll sich erst noch einmal erholen!‘“

Schließlich erhält Wawerka „ein derartiges Ding hinters Ohr, daß er sich hinsetzte“:

  „Er kam wieder hoch, schlingerte auf Matthias zu und wurde mit ein paar knallenden Ohrfeigen abgefangen. Sie waren gar nicht mehr nötig. Er war vollkommen erledigt. Matthias packte den Wehrlosen bei den Schultern, drehte ihn um und gab ihm einen Tritt. Wie eine aufgezogene Laufpuppe stolperte Heinrich Wawerka aus dem Kampfring, mitten in die sprachlose Gruppe der Realschüler hinein. [...] Matthias wurde begeistert empfangen.“ (58 f.)

Hier wird sichtbar, wozu Menschen fähig sein können, die anstelle von Sprache Gewalt gebrauchen. Je harmloser und gutmütiger Matthias zu sein scheint, desto beachtlicher ist es, wie er - und die Darstellungsweise des Erzählers - mit einem andern umgeht, wenn es ein abstrakter Ritus von ihm verlangt. Daß in einem Roman für Kinder - gedeckt durch den Erzähler - einem „Wehrlosen“ ein „Tritt“ gegeben wird oder von ihm gesagt wird, er habe „eine abscheuliche Visage“ (68), eröffnet Perspektiven an Inhumanität, deren Grad sich vielleicht erst aus heutiger Sicht erkennen läßt.
   
Der Ratschlag des Nichtrauchers führt nicht zum erhofften Erfolg, nur dazu, daß außer Matthias und Wawerka auch Kreuzkamm einige unnötige Ohrfeigen erhalten hat. Dennoch scheint der Nichtraucher mit seiner Mission nicht unzufrieden zu sein: Als die „Schlacht auf dem Bauplatz“ beginnt, geht „er, freundlich und gedankenvoll, zwischen den sausenden Schneebällen nach Hause“ (61 f.). Wie läßt sich dies verstehen? Ist er deshalb zufrieden, weil er seinen jungen Freunden eine Lektion in ,Anstand‘ erteilt hat, da er das Versagen des Zweikampfs als Konfliktlösungsmittel darauf zurückführt, daß „so etwas [...] natürlich nur unter anständigen Menschen möglich“ sei (60)? Eine solche Lehre bedeutete freilich, daß man gegenüber nichtanständigen Menschen - wie leicht läßt sich einem Gegner Anstand absprechen! - bei vergleichbaren Konflikten keine andere Wahl habe, als den Krieg. Dadurch wird Gewaltanwendung zu einem sanktionierten Verhalten „anständiger Menschen“, die ihre eigenen Beweggründe nicht zu reflektieren und keinen ernsthaften Versuch zu machen brauchen, sich mit dem Gegner gewaltfrei zu verständigen. Die mögliche Lehre aus dem Zweikampf, daß man nicht gleichzeitig Kampf propagieren und Krieg verhindern kann, wird durch Aussagen und Verhalten des Nichtrauchers verstellt.
   
Daneben läßt sich der „gedankenvolle“ Abgang des Nichtrauchers als Anspielung auf Hölderlins Gedicht „An die Deutschen“ begreifen:

  • „Spottet ja nicht des Kinds, wenn es mit Peitsch’ und Sporn
    Auf dem Rosse von Holz muthig und groß sich dünkt,
    Denn, ihr Deutschen, auch ihr seyd
  • Thatenarm und gedankenvoll.

  • Oder kömmt, wie der Stral aus dem Gewölke kömmt,
    Aus Gedanken die That? Leben die Bücher bald?
    O ihr Lieben, so nimmt mich,
    Daß ich büße die Lästerung.“7       

    Diese Anspielung legt die Vermutung nahe, hier verständige sich der Erzähler mit einem wissenden Leser über den geistesgeschichtlichen Hintergrund sowohl der Handlung im Roman wie der Maximen in dessen Vorwort:

    „Mut ohne Klugheit ist Unfug; und Klugheit ohne Mut ist Quatsch! Die Weltgeschichte kennt viele Epochen, in denen dumme Leute mutig oder kluge Leute feige waren. Das war nicht das richtige.
    Erst wenn die Mutigen klug und die Klugen mutig geworden
sind, wird das zu spüren sein, was irrtümlicherweise schon oft festgestellt wurde: ein Fortschritt der Menschheit.“ (16)

    Während der Aufklärer Kant sich einen „Fortschritt der Menschheit“ durch den Wahlspruch erhoffte: „Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“8, trennt der Aufklärer Kästner diese enge Verbindung von Mut und Verstand, indem er voraussetzt, daß jemand Gescheites denken könne, ohne mutig zu sein. Die Anspielung auf Hölderlin und die durchgängige Sympathie des Erzählers für die Gymnasialschüler erhebt deren Schlachtaktivitäten einschließlich der Befreiungs- und Bestrafungsaktionen in Egerlands Keller (vgl. 64-66) zu einem Beispiel dafür, wie „aus Gedanken die That“ komme und wie die „Weltgeschichte“ ohne Epochen bleibe, „in denen dumme Leute mutig oder kluge Leute feige waren“. Entgegen der Intention des Pazifisten Kästner wird hier aber auch deutlich, welche inhumanen Konsequenzen es hat, wenn der „Fortschritt der Menschheit“ verlangt, daß den Betroffenen der Verstand stillsteht: Unkorrigiert sagt Sebastian, der unter den Freunden den Verstand repräsentiert, zu einem Mitstreiter:

    „Du hast zwar nicht kapiert, warum wir jetzt nicht gewinnen dürfen [...]. Aber gehorchen mußt du trotzdem.“ (62)

    „Ohren steif halten“ (16) in Form von „Gehorchen“ bedeutet hier, unter Umgehen des Verstandes Befehl und Aktion kurzzuschließen. Auch wenn man es vermeidet, die Billigung eines solchen Bewußtseins in direkten Zusammenhang mit dem zu bringen, was im Dritten Reich geschehen konnte, weil Befehle den Verstand suspendierten, läßt schon der Umstand, daß etwas Fortschrittliches durch Entmündigung auch nur eines Menschen unwidersprochen gedacht werden kann, die Humanität des „Urenkels der deutschen Aufklärungfragwürdig erscheinen. Noch bedeutender aber ist, daß alle Aktionen derer, die „Mut und Klugheit“ verbinden, dazu führen, den Gegner - mit Ausnahme des Anführers moralisch zu deklassieren und dadurch immanent zu rechtfertigen, daß der Konflikt nicht durch Sprache, sondern durch Gewalt gelöst wird. Ein Leser, der das Verhalten der Tertianer zustimmend internalisiert, hat u. U. auch dann keine Sprache, wenn das Kriegsmaterial nicht mehr aus Schnee, sondern aus Kugeln besteht, zumal die Parole „eisern!“ (61) sich nur graduell von der Parole ,hart wie Krupp-Stahl’ unterscheidet.9
   
Diese Auffassung wird auch nicht dadurch relativiert, daß die Tertianer ein Beispiel dafür gäben, wie um eines höheren Gutes willen Widerstand gegen geltendes Recht und gegen eine Autorität zu leisten und zu rechtfertigen sei. Denn durch ihr „gesetzwidriges“ (76) Verhalten wird weder die Geltung der Hausordnung noch die Autorität des Hauslehrers tangiert, vielmehr dient die Aktion, die zufällig „außer [...] der Ausgehzeit“ (72) abläuft, dazu, daß sowohl „Hausordnung“, der „Genüge getan“ (77) wird, wie Hauslehrer, für den sich Matthias und Uli, „wenn’s sein muß, aufhängen“ (81) lassen, in sympathischem Licht erscheinen. Es ist ein Scheinkonflikt, der es ermöglicht, das für die Lösung von Großkonflikten vorgeführte Modell pauschal gutzuheißen. Trotz des früher gemachten „haushohen Krachs“ (43) sagt der Hauslehrer nun:

    ,,[...] ich [muß] euch mitteilen, daß ich euer Verhalten billige. Ihr habt euch einfach tadellos benommen, ihr Bengels.“ (76)

    Es wurde bisher gezeigt, mit welchen Mitteln in diesem Roman Konflikte zwischen feindlichen Gruppen bewältigt werden und daß Sprache als Lösungsmöglichkeit nicht erscheint. Nun soll untersucht werden, wie sich Freunde und Gleichgesinnte gegenübertreten.

 

3.

Im Mittelpunkt der Handlung stehen fünf Freunde, an ihrer Spitze Martin, der das im Vorwort skizzierte Erziehungsideal einer Symbiose von „Mut und Klugheit“ verkörpert. Die andern vier vertreten eher Einzelqualitäten: Johnny als Dichter, Sebastian als kalter Intellektueller, Matthias als immer hungriger Faustkämpfer und der kleine Uli als Angsthase. Diese fünf bilden keine harmonische Einheit, vor allem Sebastian und Uli sind nicht voll integriert.
    Uli leidet darunter, daß ihm „die anderen absolut nichts zutrauen“ (40). Während er hier ausspricht, daß seine Angst heilbar wäre, wenn er das Zutrauen der anderen hätte, gibt ihm Matthias den Rat:

  „,Na, du müßtest eben einmal irgendetwas tun, was ihnen Respekt einjagt [...]. Etwas ganz Tolles. Daß sie denken: Donnerwetter, ist der Uli ein verfluchter Kerl. In dem haben wir uns aber gründlich getäuscht.‘“ (41)

Es ist bezeichnend für die Stellung Ulis in der Gruppe, daß er seine Angst und seine Sorgen nur jemandem mitteilen kann, der ihn nicht versteht: Da Matthias nicht sieht, daß die Ursache von Ulis Angst in dem Verhalten der Freunde liegt und dort behoben werden müßte, verweist er ihn auf sich selbst, so daß seine Angst nicht kleiner, sondern größer wird.
    Die Mitschüler trauen Uli nicht nur nichts zu, sondern benützen ihn als Mittel, um sich an „Haarsträubendem“ (98) zu ergötzen
: Uli wird im „Papierkorb an den zwei Haken, die zum Aufhängen der Landkarten dienten, hochgezogen“ (98). Matthias will dem Kleinen zwar helfen, wird aber „von vier Jungen in der Bank festgehalten“ (98). Von Johnny, der als ,Dichter‘ die Aufgabe hätte, das Unrecht in Worte zu fassen, erfährt man hier nichts, und Sebastian liest, während Uli an der Zimmerdecke hängt, „sein Buch über die Vererbungslehre“ (101). Es zeugt nicht von großer Zivilcourage des Primus Martin, daß er aus Respekt vor dem Lehrer - wie die andern Freunde auch - den kleinen Uli, der selbst auch nicht den Mut hat, sich dem Lehrer gegenüber bemerkbar zu machen, mit seiner Angst allein läßt. Es wird also eine Schulgesellschaft vorgeführt, in der der einzelne vor dem Lehrer und vor den Mitschülern so viel Angst hat, daß es allen die Sprache verschlägt; Uli repräsentiert nur den Extremfall einer allgemeinen Situation.
   
Abgeschlossen wird diese Episode mit dem Lehrsatz:

   „,An allem Unfug, der passiert, sind nicht etwa nur die schuld, die ihn tun, sondern auch die, die ihn nicht verhindern [...]. Diesen Satz schreibt jeder bis zur nächsten Stunde fünfmal auf.’” (102)

So ernst dieser Appell an die Verantwortlichkeit des einzelnen gemeint sein mag, so sehr verliert er dadurch an Bedeutung, daß er vom schrulligen Professor Kreuzkamm ausgesprochen wird. Und was überhaupt derartige als Unfugverhütungsmittel deklarierte Sätze zu leisten vermögen, wird im Roman selbst dargestellt anläßlich der Verzweiflungstat Ulis, der aus Protest gegen die allseitig erfahrene geringschätzige Behandlung einen Absturz von der Turnstange riskiert.
    Wenn mit mechanisch gelernten Maximen Menschen zu verbessern wären, dürften die Jungen, die „gleich das Gefühl gehabt [hatten], daß etwas Außergewöhnliches und Verbotenes bevorstehe“ (109 f
.), nicht „die Hände in den Manteltaschenhaben und - als Uli springen will -
stumm rückwärts” (110) drängen, sondern müßten das „Verbotene“ als „Unfug“ erkennen, der zu einem Unglück führen kann, und dies durch Sprechen und Handeln verhindern.
    Während jedoch 50 Jungen Uli so ernst nehmen, daß sie von seiner Ankündigung etwas „Außergewöhnliches“ erwarten, erinnern sich seine ,Freunde‘ erst an ihn, als es zu spät ist. Bezeichnenderweise „fällt“ bei der vergeblichen Hilfsaktion der Dichter, also der Repräsentant der Sprache, „hin“ (111). So bleibt denen, die bisher mit ihrem ,Freund‘ weder gesprochen noch ihn für voll genommen haben, nichts übrig, als nach dem Unglück betreten zu schweigen (vgl. 112).

    Man könnte diesen Vorfall als Demonstration für die Nutzlosigkeit des oben zitierten „Satzes“ begreifen, wenn in Kästners Werk nicht ständig diese Art von Appellen vorhanden wären. Z. B. heißt es in einer Ansprache „vor jungen Leuten“ (um 1950):

    „Jeder ist mitverantwortlich für das, was geschieht, und für das, was unterbleibt. Und jeder von uns und euch - auch und gerade von euch - muß es spüren, wann die Mitverantwortung neben ihn tritt und schweigend wartet. Wartet, daß er handle, helfe, spreche, sich weigere oder empöre, je nachdem. Fühlt er es nicht, so muß er’s fühlen lernen. Beim einzelnen liegt die große Entscheidung.“10

So ist auch hier zu sehen, wie sich die Intention des Romans gegen die seines Autors durchsetzt, indem sie dessen Lehrsatz ad absurdum führt. Und dieser Widersprüchlichkeit entsprechend werden die ,Freunde‘, die den „idiotischen Einfall“ nicht verhindert oder- Matthias betreffend - sogar mitverursacht haben, durch „Doktor Bökhs Trostsprüche“ (107) gerechtfertigt:

    „Vergeßt nicht, daß so ein Beinbruch weniger schlimm ist, als wenn der Kleine sein Leben lang Angst davor gehabt hätte, die andern würden ihn nicht für voll nehmen. Ich glaube wirklich, dieser Fallschirmabsprung war gar nicht so blödsinnig, wie ich zunächst dachte.“ (114)

Nachdem die Autoritätsperson des Romans das Versagen der Gruppe gegenüber dem Schwächsten solchermaßen entschuldigt, ist es sehr unwahrscheinlich, daß Leser, die sich einen der jungen Freunde zum Vorbild nehmen, vergleichbaren „Unfug“ verhindern werden. Denn dazu wäre eine Mündigkeit erforderlich, die es ermöglichte, miteinander zu sprechen. Aber diese Fähigkeit besitzt, wie zu zeigen sein wird, nicht einmal der Primus Martin seinen besten Freunden gegenüber.

 

4.

Sobald Martin erfährt, daß er über Weihnachten in der Schule bleiben müsse, versagt seine Kommunikationsfähigkeit. Er hört seinen Freunden „überhaupt nicht zu“ (123) und kann  auch seinen Eltern gegenüber nicht aussprechen, wie traurig er sich fühlt (vgl. 132). Die Ursache für diese Verkrampfung Martins ist nicht unmittelbar einsichtig. Schlimmstenfalls muß er ohne seine Eltern Weihnachten feiern und stattdessen mit seinem Freund Johnny, mit dem er sich stumm zu verstehen scheint (vgl. 106), seinem verletzten Freunde Uli und seinem verehrten Lehrer Dr. Bökh im Internat bleiben.
    Zu diesem Dr
. Bökh, den man als „Bilderbuchlehrer“, als „Vorbild- und Wunschlehrer“ bezeichnet hat, in dem „die ganze Sehnsucht aller Schüler und aller entschiedenen Schulreformer liegen [könnte ]
11 , ist Martins Verhältnis noch sprachloser als zu seinen Freunden. Er wagt nicht, dem Lehrer seinen Kummer mitzuteilen, obgleich dieser zuvor den Freunden erläutert hatte, er sei deshalb Hauslehrer geworden, „damit die Jungen einen Menschen hätten, dem sie alles sagen könnten, was ihr Herz bedrückte“ (81). Solange ein Lehrer entgegen seiner eigenen Zielsetzung von derartigen Sprachbarrieren umgeben ist, kann man bezweifeln, ob er wirklich das Ideal aller „Schüler“ und „Schulreformer“ verkörpert.
    Aber auch der Hauslehrer spricht seinen Schüler nicht an, als er dessen Irritation bemerkt, vielmehr muß ihm ein zufälliges Zusammentreffen im Park zu Hilfe kommen, um zu erfahren, warum Martin im Internat statt zu Hause ist (vgl. 152 f.). Nirgends wird dieses Verhalten als pädagogisch reflektiertes ersichtlich, so daß in diesem Roman als Wesensmerkmal vorbildlicher Menschen gelten kann, sich gegenüber andern sprachlich zurückzuhalten.
    Der ganze Umfang der Sprachlosigkeit Martins zeigt sich jedoch darin, daß er auch nach dem Geldgeschenk Dr. Bökhs seinem besten Freund Johnny, der mit ihm sein ganzes Leben verbringen möchte (vgl
. 95), weder etwas von seinem Kummer noch von seiner Freude zu erzählen vermag: Dessen spontaner Offenheit über seine Gefühlssituation – „Sehr glücklich bin ich nicht. Das wäre gelogen. Aber ich bin auch nicht sehr unglücklich.“ (157) - kann Martin nur eine „Notlüge“ (147) entgegensetzen: „Er konnte doch nicht Johnny erzählen, daß er seine eigenen Weihnachtsgeschenke mit nach Hause nahm!“ (157 f.)
    Hier versucht der Erzähler ein Einverständnis mit dem Leser darüber herzustellen, daß Rücksichtnahme auf einen Freund, der keine leiblichen Eltern mehr hat, eine „Notlüge“ rechtfertige
. Tatsächlich ist deren Notwendigkeit schwer einsehbar, und Martins Verhalten wird vielleicht nur deshalb hingenommen, weil es durch eine entsprechende Rücksichtnahme des Nichtrauchers gegenüber seinem Freunde vorbereitet ist:

„,Ja, sagte Dr. Bökh, ,das waren zwei Freunde! Sie blieben auch später beieinander. Sie studierten zusammen. Sie wohnten zusammen. Sie trennten sich auch nicht, als der eine von ihnen heiratete. Dann aber bekam die Frau ein Kind. Und das Kind starb. Und die Frau starb. Und am Tage nach dem Begräbnis war der Mann verschwunden. Und sein Freund [...] hat nie wieder etwas von ihm gehört.‘“ (80 f.)

Auch zwischen den emphatisch hervorgehobenen „Freunden“ versagen also Sprache und Freundschaft, wenn sie am notwendigsten wären. Diese vom Erzähler als vorbildlich dargestellte Sprachlosigkeit gilt es nun - gegen dessen Intention - auf ihre Ursachen zu befragen. Dazu sollen die Normen untersucht werden, die das sprachlose Verhalten der Personen im Roman bestimmen.

 

5.

Zwei Jahre nach Ulis Unfall wird von ihm, bekräftigt durch den Erzähler, gesagt: „Er hat sich damals selbst überwunden [...]. Und da ist dann alles Übrige eine Kleinigkeit.“ (173). Nun stecke in ihm „eine Kraft, der sich niemand widersetzen kann. [...] wenn er wen anschaut, hat er’s schon geschafft“ (173).
    Was die so hoch angesetzte Tugend der Selbstüberwindung konkret heißt, führt der Roman nicht zuletzt an Uli selber vor
. In der Gruppe der fünf Freunde zeichnet er sich durch Negativqualitäten aus. Da er - abgesehen von seiner Mädchenrolle im Theaterstück - von seiner Gruppen- zugehörigkeit kaum Vorteile hat, scheint er von den anderen nur aufgenommen worden zu sein, damit sie sich von ihm positiv abheben bzw. an ihm ihre Aggressionen auslassen können (vgl. Sebastians Bemerkung über das Zurückweichen Ulis [61]). Als Alternative zu seiner Verzweiflungstat bliebe ihm nur, auf irgendeinem Gebiet eine Spitzenleistung zu vollbringen, sei es wie Martin als Primus und Maler, sei es wie Johnny als Dichter, wie Sebastian als angehender „Gelehrter“, der „herauskriegen [will], was in den Atomen drin ist“ (173), oder wie Matthias, der auf das nicht geringe Ziel hintrainiert, „Boxweltmeister“ (40) zu werden. Da er sich solch eine konkrete Spitzenleistung nicht zutraut, tut er etwas von dem er mit Recht annimmt, daß es die höchste Anerkennung findet; er transformiert die Selbstüberwindung in das Goldene Kalb seiner Gesellschaft: in abstrakte Höchstleistung. Deren Höhe bestimmt sich nicht dadurch, was sie einem Menschen konkret nützt, vielmehr durch den Grad an Risiko, das der Betreffende eingeht. Bereits Schiller hat die Leistungsgesellschaft auf die Formel gebracht:

  • „Und setztet ihr nicht das Leben ein,
  • Nie wird euch das Leben gewonnen sein.“1

    Demgemäß ist Johnny zur Schlacht gelaufen, „als gelte es das Leben“ (66), und er, der als „Dichter“ über besondere Erkenntnisqualitäten verfügt (vgl. 157), spricht auch aus, wie sehr dieses Prinzip in der Welt des „Fliegenden Klassenzimmers“ gilt: „Wenn UIi nicht das Bein gebrochen hätte, wäre er sicher noch viel kränker geworden.“ (157) Uli spiegelt die Situation eines jeden wider, der in dieser Gesellschaft etwas gelten will. Ohne Einsatz des Lebens - in welcher Form auch immer - kommt kaum einer davon. Freilich darf sich dies nicht vor aller Augen zutragen; es wäre für den Bestand dieser Gesellschaft vernichtend:

   „Ich bitte vorsichtshalber die Anwesenden, streng darauf zu achten, daß diese Art von Mut nicht etwa Mode wird. Ich bitte alle, sowohl die Tapferkeit als auch deren Mangel so unauffällig wie möglich auszuüben. Wir müssen auf den Ruf der Schule achten, als wär’s unser eigener. Beinbrüche sind Beweismittel, die ich in meiner Eigenschaft als Hauslehrer rundweg ablehnen muß.“ (127)

    Dementsprechend ist in diesem Roman Verhalten eher dort vorbildlich, wo Angst bzw. Tapferkeit unauffällig ausgeübt werden. Ein Beispiel für die erste Form ist Sebastian:

    „,Ich will euch [...] vertraulich mitteilen, daß ich sogar außerordentlich ängstlich bin. Ich bin aber ein gescheiter Mensch und laß es mir nicht anmerken. Mich stört mein Mangel an Mut nicht besonders. Ich schäme mich nicht darüber. Und das kommt wieder daher, daß ich gescheit bin. Ich weiß, daß jeder Mensch Schwächen und Fehler hat. Es kommt nur darauf an, diese Fehler nicht sichtbar werden zu lassen.‘ [...]
   ,Mir ist es lieber, wenn man sich noch schämen kann‘, meinte der Sekundaner.
   ,Mir auch‘, antwortete Sebastian leise
.“ (121)

Hier lassen sich die gesellschaftlichen Zwänge erkennen, in denen die Schüler leben: Entweder sie schämen sich und gehen dabei seelisch zugrunde bzw. verlieren - wie UIi - vom „Mut der Verzweiflung“ (120) getrieben die Kontrolle über ihr Handeln, oder sie kompensieren ihren Defekt durch Leistung. Aber auch dies hat seinen hohen Preis. Es ist angedeutet, wie es Matthias ergehen wird, wenn er sein Ziel nicht erreicht, denn schon jetzt treiben die Mitschüler mit ihm ihren Schabernack (vgl. 90). Und von Sebastian heißt es: „Er hatte keinen Freund. Und sie hatten stets gedacht, er brauche keinen. Aber jetzt spürten sie, daß er doch unter seiner Einsamkeit litt. Er war bestimmt kein sehr glücklicher Mensch.“ (121)
   Unter dem Schock von Ulis Unfall wird Sebastian entgegen seiner sonstigen Art „merkwürdig gesprächig“ (121). Ansatzweise ist hier zu erkennen, was Sprache, wenn Gefühle, Ängste und Sorgen artikuliert werden dürften, zu leisten imstande wäre. Aber zugleich wird deutlich, wie gefährlich Sprache einer Gesellschaft werden müßte, die nicht zuletzt durch Zwänge existiert, die sie dem einzelnen auferlegt und die dieser sprachlos hinnimmt.
   Demgemäß spürt Sebastian, daß er lächerlich wird, d. h
. mit Sanktionen der Gesellschaft zu rechnen hat, wenn er mit Hilfe der Sprache aus sich selbst herausgeht und dadurch den jedem einzelnen zugewiesenen Raum der Innerlichkeit und Unauffälligkeit verläßt:

    „,Im übrigen‘, sagte er plötzlich kalt, ,im übrigen soll sich keiner unterstehen, meinen Mangel an Mut komisch zu finden. Ich müßte ihm sonst, lediglich zur Aufrechterhaltung meines Ansehens, eine runterhauen. Soviel Courage hab ich nämlich noch.‘“ (121)

Sebastian wirkt hier nicht deshalb „komisch“, weil er dabei war, sentimental zu werden, sondern weil er durch Sprache zu Bewältigendes weiterhin durch Sprachlosigkeit verhärten will.
    Wie sehr Sprachlosigkeit verinnerlicht ist, zeigt sich vollends an Martins unauffälligem Ausüben von Tapferkeit. Anders als Sebastian ist er nicht dargestellt mit dem Fehler der Angst, sondern mit einem Makel, der nicht in seiner Person liegt, den er aber gleichwohl in seiner Person verkraften muß: der Armut seiner Eltern (vgl. 38). Diese Armut ist den Schülern des Internats als Schwäche und Fehler Martins bewußt. Der „schöne Theodor“ ruft ihm zu: „Daß man einem solchen Flegel wie dir Stipendien gibt, werde ich wohl nie verstehen.“ (71) Und so beschränkt Matthias sein mag, es ist ihm immer gegenwärtig, daß Martin „eine halbe Freistelle“ hat und Stipendien kriegt (vgl. 48). Zwar fügt er bewundernd hinzu, daß Martin sich dennoch „von niemandem was bieten“ lasse (48), aber damit sagt er auch, daß sich Martin in dieser Gesellschaft nur so lange behaupten kann, wie er den Respekt und die Achtung jedes einzelnen besitzt.
    Durch seinen sozialen Defekt ist Martin stärkerem Konkurrenzdruck ausgesetzt als sozial besser Gestellte. Deshalb ist er „widerlich fleißig und trotzdem kein Streber“, ist er von Anfang an „Klassenerster und macht trotzdem jede ernsthafte Keilerei mit“ (48)
. Deshalb hat er sich aber auch „den Justus zum Vorbild genommen“ und „liebt die Gerechtigkeit genau wie der Justus“ (49). Schwierig wird es für ihn dort, wo er etwas als ungerecht empfindet und zugleich weiß, daß dieses ,Ungerechte‘ legal ist. Aus diesem Grund verschweigt er die unverschuldete Armut seiner Eltern und bringt „es nicht übers Herz“, den „andern mit[zu]teilen, daß auch er hierbleiben werde“: „Trotz seiner Freunde kam er sich verlassen vor. Völlig verlassen.“ (140)
    ,Selbstüberwindung’ (vgl
. 173) konkretisiert sich hier als Sprachverhinderung durch Selbstverleugnung und Selbsterniedrigung, die als Tugend des Sich-schämen-Könnens besonders positiv bewertet ist (vgl. 121). Aber während es dem kleinen Uli ausnahmsweise erlaubt wird, seine Angst durch eine abstrakte Hochleistung vor den Augen der Öffentlichkeit zu überwinden und sich bestätigen zu lassen, daß die anderen „einen unheimlichen „ Respekt“ vor ihm gekriegt haben (125), bleibt es Martin vorbehalten, die höchste Form der Selbstüberwindung zu demonstrieren, indem er nicht nur Tapferkeit leistendes Subjekt ist, sondern zugleich die die Leistung beurteilende Öffentlichkeit vertreten muß: Er beurteilt selbst, ob er ein würdiges Glied der Gesellschaft ist oder nicht.
    Martin überprüft seine Leist
ungsfähigkeit daran, inwieweit es ihm gelingt, Traurigkeit zu unterdrücken. Seinen Eltern schreibt er: ,,[...] Ihr kennt mich ja. Wenn ich mich nicht unterkriegen lassen will, tu ich’s nicht. Wozu ist man schließlich ein Mann!“ (131) Während Matthias sich gegen einen konkret faßbaren Gegner „nicht unterkriegen“ läßt, muß Martin seinen „Mann“ in einer verinnerlichten Konkurrenzsituation stehen: Der abstrakte Zweikampf zwischen ihm und seiner Traurigkeit findet in seiner Person statt.
    Dementsprechend „befahl [er] sich: ,Weinen ist streng verboten! Weinen ist streng
verboten! Weinen ist streng verboten!’ Schon gestern abend, als er nicht einschlafen konnte, hatte er diesen Satz immer wieder in sich hineingemurmelt. Mindestens hundertmal“ (135). An anderer Stelle heißt es: „Dann biß er sich auf die Unterlippe. Ein Wort mehr, und er hätte losgeheult. Weinen ist streng verboten, dachte er, nickte Sebastian zu und ging rasch weiter. Er rannte fast. Nur fort!“ (137 f.) Und selbst im Traum kämpft er den Kampf gegen die eigene Traurigkeit so intensiv, daß dieser Leitsatz „Immer wieder. Immer wieder“ (146) zu hören ist.
    Obgleich Martins ,Heldentat‘ nicht völlig gelingt, wird sein Kampf schließlich belohnt. Allerdings hat dies nicht zur Folge, daß er befähigt wäre, Johnny die Wahrheit zu sagen. Martin selbst glaubt, er handle aus Rücksichtnahme, aber die Analyse seiner Situation zeigt, daß er nicht anders handeln kann, weil er sich noch immer der Armut seiner Eltern schämt. Dies kommt auch darin zum Ausdruck, daß er seinen geliebten Lehrer, der ihm 20 Mark schenkt, daraufhin als „Weihnachtsengel namens Bökh“ (166) verklärt: So läßt sich in einer Welt, in der jeder auf sich selbst zurückgewiesen wird, der ,beschämende‘ Zustand leichter ertragen, auf die freundliche Handlung eines geliebten Menschen angewiesen zu sein,

 

6.

Je stärker in einer Gesellschaft das, was geschieht, als Leistung bzw. als Versagen einzelner erscheint, desto unerklärlicher wird die Welt für den, der trotz aller Anstrengung und Leistungsbereitschaft in dieser Gesellschaft nicht zurechtkommt. Er kann die Ursache entweder bei einzelnen Menschen suchen, die „nicht reif genug sind, die Macht, die ihnen übertragen wurde, vernünftig und großmütig auszuüben“ (79), oder bei sich selbst, weil er erwiesenermaßen ein Versager sei.
    Auf die erste Möglichkeit scheint der Erzähler anzuspielen, wenn er die Thalers in ihrer völlig ungesicherten Familienidylle - es fehlt sogar das Geld für den elektrischen Strom der Lampe (vgl
. 160) - als glücklicher bezeichnet „als sämtliche lebendigen und toten Milliardäre zusammengenommen“ (165), deren Unglück doch wohl nur daherrühren kann, daß sie noch Milliardäre sind, anstatt ihr Geld zur Linderung sozialer Not ausgegeben zu haben. Den zweiten Aspekt vertritt Martins Vater:

   „,Daß so etwas vom Schicksal überhaupt erlaubt wird’, sagte er. ,Da muß so ein kleiner Kerl schon erfahren, wie schlimm es ist, wenn man kein Geld hat. Hoffentlich macht er seinen Eltern nicht noch Vorwürfe, daß sie so untüchtig waren und so arm geblieben sind!‘“ (162)

Je emotionaler Martins Mutter dies als „dummes Zeug“ bezeichnet, desto deutlicher wird, wie wenig seine Eltern glauben, daß „Tüchtigkeit und Reichtum nicht dasselbe sind“ (162). Wie die meisten, die in der Leistungsgesellschaft im Konkurrenzkampf unterliegen, nehmen sie Zuflucht zum Schicksal; diese Wendung zum Mythischen ist vorbereitet durch Dr. Bökh: ,,[...] gegen das Schicksal hilft manchmal kein Studium.“ (105)
    Im „Fliegenden Klassenzimmer“ wird jedoch niemals die Möglichkeit angedeutet, daß der Begriff ,Schicksal‘ durch eine Analyse der Ursachen der jeweiligen Lebensbedingungen in Frage gestellt werden könnte. Erzogen von schicksalsergebenen Eltern, die ihre Lage als „traurig, aber nicht zu ändern“ (116) hinnehmen, ist auch Martin sofort bereit, diese Einschätzung zu akzeptieren: „Aber da es doch nicht zu ändern ist, kann man nichts machen.“ (131) Entsprechend fällt seine Gesellschaftsanalyse aus:

   „,Aber ich‘, dachte Martin, ,ich bin doch gesund! Ich habe kein Bein gebrochen und kann trotzdem nicht fort. Ich habe meine Eltern sehr lieb, und sie lieben mich, und trotzdem dürfen wir am Heiligen Abend nicht zusammensein. Und warum eigentlich nicht? Wegen des Geldes. Und warum haben wir keins? Ist mein Vater weniger tüchtig als andere Männer? Nein. Bin ich weniger fleißig als andere Jungen? Nein. Sind wir schlechte Menschen? Nein. Woran liegt es dann? Es liegt an der Ungerechtigkeit, unter der so viele leiden. Es gibt zwar nette Leute, die das ändern wollen. Aber der Heilige Abend ist schon übermorgen. Bis dahin wird es ihnen nicht gelingen.“ (123)

    So genau diese Beschreibung sein mag, so ungenau ist die Ursache dieses traurigen Daseins bestimmt. Wenn „Ungerechtigkeit“ als schicksalhafte, nicht weiter hinterfragbare mythische Größe im Reflexionsraum dieses Romans stehen bleibt, wenn von unreifen Menschen gesprochen wird, denen „Macht [...] übertragen wurde“ (79), ohne zu fragen, wer Macht übertrage, wenn Hermann Thaler nur als ,Stellungsloser’ und nicht im Kontext der Arbeitslosigkeit dargestellt ist, dann können diese Zustände grundsätzlich überhaupt nicht, im Einzelfall gelegentlich aber durch „nette Leute“ geändert werden. Da Dr. Bökh solch ein netter Mensch ist, wird das Unmögliche wahr, und die pessimistische Gesellschaftsanalyse erscheint als widerlegt, denn es sieht so aus, als ob es doch eine Gerechtigkeit in dieser Welt gäbe und es nur darauf ankomme, still zu sein und geduldig zu warten. „In zehn Jahren!“ sagt Martins Vater. „Bis dahin kann viel geschehen.“ (163) Tatsächlich hat er schon nach zwei Jahren „wieder Stellung gefunden“ (173); dagegen ist zu vermuten, daß Martin in den 40er-Jahren nicht, wie er es auf einem Bild ausmalt, seine Eltern durch „ferne, seltsame Länder“ kutschiert (86), sondern froh sein wird, wenn er allein aus diesen fremden Ländern lebendig zu seinen Eltern zurückkehrt.
   
Immer wenn in diesem Roman Reflexion und Analyse der historischen und gesellschaftlichen Situation möglich und nötig wäre, wird stattdessen in Komik oder Sentimentalität ausgewichen. Das zeigt sich z. B. dort, wo die Thalers „sich glücklicher [fühlten] als sämtliche lebendigen und toten Milliardäre zusammengenommen“ (165), oder wenn Dr. Bökh und der Nichtraucher fragen, was wohl aus vielen ihrer Freunde in den letzten zwanzig Jahren, also von ca. 1910-1930, geworden sei und sie ihren Blick - wie in einem sentimentalen Schlager - von der historischen Erde weg in eine zeitlos ewige Dimension wenden: „Über ihnen schimmerten die Sterne. Es waren dieselben Sterne wie damals.“ (130)

 

7.

Es sollte gezeigt werden, daß Kästners Roman „Das fliegende Klassenzimmer“ seinen Lesern ein Lebens- und Verhaltensmodell anbietet, das durch Sprach- und Geschichtslosigkeit gekennzeichnet ist und kommunikatives Verhalten durch Leistungsbereitschaft, also durch Mut, Tapferkeit, Selbstüberwindung und Selbstverantwortung ersetzt. Diese Tugenden haben ihren Glanz in einer frühbürgerlichen Phase, wenn es darum geht, die Welt zu begreifen als Material, das sich das freie, autonome Subjekt aneignen und durch das es sich selbst verwirklichen kann.13 In der spätbürgerlichen Phase, in der dieser Roman spielt, wenn sich die ökonomischen Potenzen der Welt auf ein paar wenige - unglückliche - „Milliardäre“ konzentrieren, kann der Begriff der Autonomie, soll er nicht lächerlich sein, nur aufrechterhalten werden, wenn es gelingt, innerhalb dieser Welt eine zweite Welt zu schaffen, die dem einzelnen Höchstleistungen ermöglicht, ohne die Welt der „Milliardäre“ zu tangieren. Diese zweite Welt erscheint in diesem Roman als Welt des Spiels, des Sports, der Wissenschaft, der Kunst und vor allem - wie gezeigt - als Welt des inneren Kampfes gegen Leiden, die die äußere Welt produziert. Mit Distanz betrachtet, ist es keine heile, wie es zunächst aussieht, sondern eine trostlose Welt, die den Kindern angeboten wird, denn sie setzt voraus, daß Menschen in sprachloser Einsamkeit glücklich sein können.
    Deshalb ist es nur eine Scheinalternative, wenn der Nichtraucher gegen das „bürgerliche Leben“ (128) argumentiert:

    „Und komme mir bloß nicht mit der Redensart, daß man nicht ohne Ehrgeiz leben solle. Es gibt nämlich viel zu wenig Menschen, die so leben, wie ich’s tue. [...] die Zeit hätten, sich an das zu erinnern, was wesentlich ist. Geld und Rang und Ruhm [also bürgerliche Ideale], das sind doch kindische Dinge! Das ist doch Spielzeug und weiter nichts. Damit können doch wirkliche Erwachsene nichts anfangen.“ (129)

   In Wirklichkeit können in der Welt dieses Romans die Erwachsenen damit nichts anfangen, weil ihnen bis auf ein paar wenige die Möglichkeit fehlt, „Geld und Rang und Ruhm“ zu erwerben. Statt solcher „kindischer Dinge“ preist der Nichtraucher an, „Blumen züchten und Bücher lesen“ (129), Einsamkeit in einem „Schrebergarten“ (36), sich in einem „gewöhnlichen Lokal [...] so wunderbar allein [!]“ fühlen, als säße man „irgendwo im Wald“ (128). Auch das andere Vorbild, Dr. Bökh, sitzt so allein in seinem Turmzimmer (171), daß er nicht merkt, wie sich sein „einziger Freund“ (143) in unmittelbarer Nähe der Schule ansiedelt; und auch die ,glückliche‘ Idylle der Thalers - „Kaffee“, „Weihnachtszigarre“ und „Lebkuchen“ (165) - ist Ausdruck dessen, daß die Traurigkeit ihres Daseins sentimentalisiert ist. Nichts, was dieser Roman als Glück darstellt, hätte Bestand, wenn man es auf die Tragfähigkeit seiner Bedingungen untersuchte; auch dort, wo etwas als „forschendes“ (94) Denken ausgegeben wird, verschleiert es Realität. Johnny Trotz, die Personifikation des Kästnerschen Leitspruchs „dennoch“14 , demonstriert, wie ein antithetisches Denken ins Leere verpufft, wenn es nicht den Mut aufbringt, das, wogegen es opponiert, kompromißlos zu analysieren:

    „,Unter jedem Dach leben Menschen. Und wie viele Dächer gibt’s in einer Stadt! Und wie viele Städte gibt’s in unserem Land! Und wie viele Länder gibt’s auf unserm Planeten! Und wie viele Sterne gibt’s in der Welt! Das Glück ist bis ins Unendliche verteilt. Und das Unglück auch ... Ich werde später bestimmt einmal auf dem Lande leben. In einem kleinen Haus mit einem großen Garten. Und fünf Kinder werde ich haben. [...] Vielleicht zieht Martin zu mir ins Haus. Er wird Bilder malen. Und ich werde Bücher schreiben. Das wäre ja gelacht‘, dachte Jonathan Trotz, ,wenn das Leben nicht schön wäre!‘“ (94)

    Nicht nur der hier gegen die Prämissen gezogene, scheinlogische Schluß legt nahe, daß es „gelacht“ ist, sondern auch das Kommunikationsverhalten in diesem Roman: Wie sollte das Leben schön sein, wenn als unabänderlich vorausgesetzt wird, daß es nicht spricht, sondern im Lebens-Boxkampf mit einer „verteufelt großen Handschuhnummer“ (16) Ohrfeigen austeilt, und daß das Glück darin besteht, sie standhaft einzustecken? Nicht sprachlose Freiheit ohne Mündigkeit, sondern gewaltfreies Sprechen wäre Bedingung dafür, glücklicher zu leben, als es den Menschen im Roman und denen, die diesen Roman begeistert lesen, erlaubt ist.

 

8.

Auf einer PEN-Tagung im Jahre 1958 sagt Kästner:

    „Die Ereignisse von 1933-1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen. [...] Man darf nicht warten, bis der Freiheitskampf Landesverrat genannt wird. Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist. Man muß den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf. Sie ruht erst, wenn sie alles unter sich begraben hat. Das ist die Lehre, das ist das Fazit dessen, was uns 1933 widerfuhr.“15

    Kästner konnte sich zu Recht als jemanden sehen, der vor 1933 auf die Gefahren der Lawine“ hingewiesen und gegen Hitler polemisiert hat; es gab für ihn wohl keinen Grund, auch seine eigene, individuelle Geschichte mit der Unaufhaltsamkeit dieser Lawine in Verbindung zu bringen. Dies ist für seine Kinderliteratur deshalb von Bedeutung, weil die dort vermittelten Werte ein wahres Abbild seiner eigenen Sozialisationsnormen sind. Von sich sagt er: „Ich war stolz und schämte mich. Beides zu gleicher Zeit.“16 ,,Man hat die verdammte Pflicht, sich nicht gehen zu lassen.“17 „Sie [gemeint ist Kästner selbst] haben Freunde und Feinde in Fülle und sind, dessen ungeachtet, allein wie der erste Mensch!“18 Hier werden die vorbildlichen Gestalten aus dem „Fliegenden Klassenzimmer“ erkennbar, und auch mit dem, was der Nichtraucher als „die Hauptsache“ bezeichnet, kann sich Kästner voll identifizieren:

    „Der Johann Bökh, euer Justus, und ich haben manches gelernt. Hier auf der Schulbank und draußen im Leben. Und trotzdem haben wir nichts vergessen. Wir haben unsere Jugend in der Erinnerung wachgehalten, und das ist die Hauptsache. [...] Vergeßt eure Jugend nicht! [...] Wir sind älter geworden und trotzdem jung geblieben. Wir wissen Bescheid, wir beiden!“ (145)

    Entsprechend verlangt er vom Schriftsteller, „sich in seine eigne Kindheit zurückzaubern“19 - nicht zurückreflektieren - zu können; denn: Sich „der Kindheit wahrhaft erinnern, das heißt: plötzlich und ohne langes Überlegen [!] wieder wissen, was echt und falsch, was gut und böse ist“.20  

    Aufgrund der Analyse des „Fliegenden Klassenzimmers“ muß jedoch bezweifelt werden, ob aus einer vom „Leben“ abgeschirmten, mit Sentimentalitäten und Schicksalskräften ausgestatteten Kindheit die Erkenntnisse und Impulse zu schöpfen sind, die es z. B. ermöglicht hätten, bewußt den „Schneeball“ zu zertreten, ob also das 1933 erschienene Buch als Beitrag gegen den Faschismus verstanden werden darf. Was hatte ein Junge wie Martin im Kopf bzw. im Gefühl, um nicht freudig dem zu folgen, der verspricht, mit Hilfe des Schicksals die „Ungerechtigkeit, unter der so viele leiden“ (123), aus der Welt zu schaffen? Hätte er nicht eher mitsingen können, wenn „von dem Führer, welcher einsam ist, [...] der das dunkle Schicksal trägt“21 , die Rede ist, als Kästners Bitte an den Weihnachtsmann zu unterstützen, „die Industriellen [...] übers Knie“ zu legen, den Regierenden „die Hosen stramm“ zu ziehen und „Hitler [...] dem Guten, bitte, bitte, den Germanenhintern“ vollzuhauen22? Kästners eigene Antipathie gegen Heldentum - „Und so war mir die Blamage immer noch ein bißchen lieber als ein Schädelbruch [...]. Ich wollte kein Held sein oder werden.“23 - hinderte ihn nicht, im kleinen Uli von Simmern den Prototyp eines Helden, wie man ihn im Dritten Reich brauchte, darzustellen.
    Unverdrossen und unreflektiert hält Kästner an Werten fest, die sich als Sprachlosigkeit manifestieren. Noch im Jahr 1953 sieht er düstere Zeiten heraufkommen, weil der Jugend - anders als der Jugend der 20er-Jahre, die z. B. „nach einer Vorlesung Hofmannsthals oder Werfels, stumm [!] davonging, statt dem Dichter auf die Schulter zu klopfen und ein Autogramm zu verlangen“ - „Ehrfurcht [...] oder doch Respekt“ fehlt: ,,[...] der Schwund des Respekts, der Verlust der Ehrfurcht und der aufrechten Demut sind Wetteranzeichen einer Katastrophe, die verhütet werden muß.“
24
    Dies zeigt, daß Kästner keinen Zusammenhang erkennt zwischen der Erziehung zu Respekt und Ehrfurcht und der Katastrophe, in die seine eigene Generation geraten ist. Folglich brauchte er niemals auch nur zu erwägen, ob seine Kinderbücher - denen die Erzieher Anerkennung und die Erzogenen Begeisterung entgegenbringen“
25, obgleich in ihnen z. B. steht, daß es schon unter Kindern unverbesserbare „Schweinehunde“ gebe26 - nicht gerade deshalb Kindern nur mit Vorsicht angeboten werden sollten, weil sie zu stummem Gang, Respekt, Ehrfurcht und aufrechter Demut erziehen.
    Angeleitet jedoch zu kritischem Lesen läßt sich aus einem Buch wie „Das Fliegende Klassenzimmer“ viel lernen, weil Kästner bei der subjektiv genauen Abbildung seiner eigenen Kindheit mit den Idealen zugleich deren inhumane Implikationen darstellt. Denn sobald man durch die Späßchen und Sentimentalitäten hindurchsieht, werden die Personen des Romans - und zwar die vorbildhaften am meisten - lächerlich bzw. bedauernswert und können zu der Einsicht verhelfen, daß die humane Qualität gesellschaftlicher Vorgänge und Ideale sich auch daran messen läßt, inwieweit sie es ermöglichen, angstfrei zu sprechen und Sprache nicht als Herrschaftsinstrument, sondern als Medium gewaltfreien Verständigens zu begreifen.

__________________________________________
* Überarbeitete Fassung eines Vortrags, der auf einer Tagung des Landesinstituts für Curriculumentwicklung, Lehrerfortbildung und Weiterbildung, Düsseldorf, gehalten wurde.
1 Erich Kästner, Kästner über Kästner. In: ders., Vermischte Beiträge = Gesammelte Schriften, Bd. 5. Köln 1959, S.301-305, S. 303.
2 Ebd., S. 304.
3 Ebd.
4 Die kursiv gesetzten Hervorhebungen, auch innerhalb der Kästner-Zitate, sind von mir - A. B.
5 Erich Kästner, Das fliegende Klassenzimmer. 127. Auflage. Berlin 1975. (Die im folgenden in Klammern gesetzten Ziffern bezeichnen die Seiten dieser Ausgabe.)
6 Einem die Zeitgeschichte wahrnehmenden Jugendlichen - der Roman erschien 1933 in der Deutschen Verlagsanstalt, Stuttgart, später im Atrium Verlag, Zürich - war es möglich, diese
Analogie auszudehnen auf die ,Erbfeindschaft‘ zwischen Deutschland und Frankreich. (Dies wird bestärkt durch die an Napoleons ,Große Armee‘ erinnernde Bezeichnung „geschlagene Armee der Realschüler“ [68].)
7 F
riedrich Hölderlin, Sämtliche Werke, hrsg. v. F. Beißner. Bd 1: Gedichte bis 1800. Stuttgart 1946, S. 256.
8 Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: ders., Werke. Akademie-Textausgabe, Bd 8. Berlin 1958, S. 35. (Hervorhebung von Kant.)
9 Man könnte einwenden, ich hätte von einer harmlosen Schneeballschlacht, die auf jedem Schulhof ihren Platz hätte, zu viel Aufhebens gemacht. Dagegen wäre zu bedenken, daß diese Schneeballschlacht in der Wirklichkeit keine Parallele haben kann, sondern ein durch und durch literarisierter Vorgang ist, der die Analogiefähigkeit einer Schneeballschlacht benutzt, um sie zum Gleichnis von „Krieg“ (43,53), „Schlachtfeld“ (43, 67) „Kriegspfad“ (44), „Schlachtplan“ (45, 55), „Parlamentär“ (50 f.), „weißes Taschentuch“ (50), „Gefangener“ (50 f., 59), „Bedingungen“ (50 f.), „bedingungslos“ (51, 53), „feindselig“ (51), „Kommando“ (53), „feindliche Heerhaufen“ (57), „Gehorsam verweigern“ (59), „Schlacht“ (61), „gehorchen“ (62), „Bombardement“ (62), „Feinde“ (67), „geschlagene Armee“ (68) hochzustilisieren, ohne daß Signale erkennbar wären, die einen jungen Leser in ein ironisch-satirisches Verhältnis zum Dargestellten brächten.
10 Erich Kästner, Die vier archimedischen Punkte. In: ders., Vermischte Beiträge, S.261-264, S.262.
11 Fred Rodrian, Notizen zu Erich Kästners Kinderbüchern. In: NDL 8,1960, H. 9, S. 117-129, S. 124f. - Im Verhältnis zu Kästners eigenen Erfahrungen auf dem Lehrerseminar ist Dr. Bökh gewiß als ,Wunschlehrer’ konzipiert: „So war es nur folgerichtig, daß die Schüler, wenn sie auf den Korridoren einem Professor begegneten, ruckartig stehenblieben und stramm Front machen [...] mußten. [...] So stutzte man die Charaktere. So wurde das Rückgrat geschmeidig gemacht [...]. Es entstand der gefügige staatsfromme Beamte, der sich nicht traute, selbständig zu denken, geschweige zu handeln.“ (Erich Kästner, Zur Entstehungsgeschichte des Lehrers. In: ders., Vermischte Beiträge, S. 68-70, S. 70.)
12 Friedrich Schiller, Wallensteins Lager (Schlußverse).
13 Vgl. Bernard Willms, Revolution und Protest oder Glanz und Elend des bürgerlichen Subjekts. Stuttgart 1969, S. 7-32.
14 Sein [des Moralisten] Wahlspruch hieß immer und heißt auch jetzt: Dennoch!“ (Erich Kästner, Fabian. [Vorwort des Verfassers zur Neuauflage dieses Buches.] In: ders., Romane = Gesammelte Schriften, Bd 2. Köln 1959, S. 5-188, S. 10.) - Vgl. auch das Epigramm „Stoßgebet für Heiden mit Mittelschulbildung“: „Amen? Tarnen!“ (In: ders., Kurz und bündig. Köln 21952, S.48.)
15 Erich Kästner, Über das Verbrennen von Büchern. In: ders., Vermischte Beiträge, S. 571-578, S.578.
16  Erich Kästner, Als ich ein kleiner Junge war. In: ders., Romane für Kinder = Gesammelte Schriften, Bd 6. Köln 1959, S. 5-155, S. 92.
17  Erich Kästner, Kästner schreibt an Kästner. In: Kästner für Erwachsene, hrsg. v. R. W. Leonhardt. Stuttgart
o. J., S. 511-514, S. 512.
18 Ebd.
19 Erich Kästner, Wer schreibt eigentlich Kinderbücher? In: ders., Vermischte Beiträge, S. 556 f., S. 557.
20 Kästner, Die vier archimedischen Punkte, S. 263.
21 Gerhard Schumann, Nun aber steht ein Haufe von Entschlossnen. Zitiert nach Ernst Loewy, Literatur unterm Hakenkreuz. Frankfurt 1969 = Fischer Taschenbuch 1042,5.257.
22 Erich Kästner, Brief an den Weihnachtsmann, Str. VII-IX. In: ders., Vermischte Beitr
äge, S. 430.
23 Kästner, Als ich ein kleiner Junge war, S. 64.
24 Erich Kästner, Jugend. Literatur und Jugendliteratur. In: ders., Vermischte Beiträge, S.505-513,5.506.
25 Kästner, Kästner über Kästner, S. 303.
26
Gottfried Klepperbein ist ein Schweinehund. [...] Wenn jemand faul und zugleich schadenfroh, heimtückisch und gefräßig, geldgierig und verlogen ist, dann kann man zehn gegen eins wetten, daß es sich um einen Schweinehund handelt. Aus einem solchen Schweinehund einen anständigen Menschen zu machen, ist wohl die schwerste Aufgabe, die sich ausdenken läßt. Wasser in ein Sieb schütten, ist eine Kinderei dagegen. [...] [Menschen] sind als Kinder schon genau dasselbe, was sie später werden. [...] Sie wachsen nur, sie ändern sich nicht. Was nicht im Menschen von Anfang an drin liegt, das kann man nicht aus ihm herausholen, und wenn man sich auf den Kopf stellt ...“ (Erich Kästner, Pünktchen und Anton. In: ders., Romane für Kinder, S.413-509, S.484.) - Entsprechend heißt das Epigramm „Die Grenzen der Aufklärung“: „Ob Sonnenschein, ob Sterngefunkel: Im Tunnel bleibt es immer dunkel.“ (In: ders., Kurz und bündig, S. 101.)

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